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»Nein.«

»Warum dann?«

Ich war mir nicht sicher. Wir gingen die Straße entlang und niemand konnte uns abhören. Nein! Das war ein blödes Argument! Man konnte sich nie völlig sicher sein. Wenn jemand abhören will, dann kann er sogar mit einem niedrig fliegenden Satelliten die Worte von den Lippen ablesen, eine Wanze unterschieben oder mit einem gewöhnlichen Richtmikrofon aus einem vorbeifahrenden Auto mithören.

»Weißt du, Lion, hier ist mir langweilig. Soll ich etwa wie ein Idiot im Laboratorium arbeiten und dann studieren? Auf Neu-Kuweit können wir den Phagen helfen. Vielleicht werde ich sie davon überzeugen können, dass ich zum Phagen tauge.«

Lion schaute mich eigenartig an. Dann fragte er aus unerfindlichen Gründen: »Du willst ein Phag werden?«

»Selbstverständlich!«

Er versank in Gedanken. In Sekundenschnelle schien in ihm erneut der erwachsene Mann erwacht zu sein, der es geschafft hatte, zu kämpfen, zu heiraten und zu sterben.

Endlich holte Lion tief Luft und sagte traurig: »Aber sie nehmen dich doch nicht… Phagen sind alle genverändert. Ein normaler Mensch kann kein Phag werden.«

»Das ist alles Blödsinn!«, widersprach ich voller Überzeugung. »Was macht es schon aus, dass ich nicht genetisch modifiziert wurde? Wetten, dass ich radioaktive Strahlung besser aushalten kann als ein Phag? Und noch viele andere Dinge. Vielleicht können sie sogar einen Spezialagenten brauchen, der auf radioaktiven Planeten arbeiten kann.«

Lion dachte nach und stimmte zu, dass ein solcher Agent wirklich sogar den Phagen nützlich sein könnte. Und dass ein Spezialagent für die Arbeit unter den Bedingungen einer niedrigen Gravitation und geschlossener Räume ebenfalls benötigt werden könnte.

»Wir müssen dann aber etwas wirklich Wichtiges vollbringen«, grübelte er. »Nicht nur alles beobachten, sondern zusätzlich…«, er schwankte, ob er es aussprechen sollte, und sagte dann: »… zum Beispiel herausfinden, wie die Menschen dekodiert werden können!«

Derart in unsere Träume vertieft, gingen wir zu Rossis Haus. Die Viertel mit mehrstöckigen Wohnhäusern endeten, es folgten Bungalows. Alle wohlhabenden Bürger von Avalon lebten in Bungalows. »Ich gehe nicht mit rein«, nuschelte Lion, als wir uns dem Haus mit einer gepflegten Hecke, die den kleinen Garten umgab, näherten. Alle Bäume waren immergrün und sogar jetzt, mit Schnee bedeckt, sahen sie schön und festlich aus.

»Gut, ich beeile mich.«

Das Gartentor war offen, ich ging hinein und lief neben der betonierten Garagenausfahrt, die mit Sträuchern abgegrenzt war, über den gefrorenen Sandweg zum Haus. Ein Strauch war etwas angeknickt und schneefrei — das Auto war dagegengefahren.

Ich konnte mir selbst nicht erklären, warum ich Rossi sehen und worüber ich mit ihm sprechen wollte. Aber sich nicht zu äußern wäre völlig falsch gewesen.

Man muss alle Fehler vergeben können. Vielleicht wäre es unmöglichgewesen,zuverzeihen,wennetwas Unwiderrufliches geschehen war. Wenn ich ertrunken wäre oder Lion, als er mich retten wollte.

Ich war aber verpflichtet zu verzeihen. Die Phagen hatten mir ja auch meinen Fehler verziehen.

Ich ging auf das Haus zu, blieb aber stehen, als ich Rossi und seinen Vater sah.

Sie räumten mit großen, knallorange Schaufeln den Schnee vor dem Haus weg. Genauer gesagt hatten sie ihn davor weggeräumt, jetzt spielten sie miteinander und bewarfen sich gegenseitig mit Schnee. Rossi schnaufte, hob die Schaufel und versuchte den Schnee auf seinen Vater zu schütten. William, der genauso schnaufte und leise lachte, wich aus und warf von Zeit zu Zeit Schnee auf Rossi. Als Rossi, ohne darauf zu achten, wohin er den Schnee warf, Schwung holte, kam William von der Seite auf ihn zu, klemmte ihn sich unter den Arm und steckte seinen Kopf in einen Schneehaufen.

Rossi lachte, krabbelte heraus und rief: »Das war gemein!«

Ich trat leise einen Schritt zurück.

»Eins zu null!«, meinte William zufrieden.

Er war also mehr als nur ein Trunkenbold, der Tag und Nacht in allen möglichen Theatern und Literaturcafés herumhing. Er hatte auch seine guten Seiten.

Rossi warf sich jauchzend auf seinen Vater, drängte ihn in den Schnee — mir schien, dass William mit Absicht nachgegeben hatte — und begann ihn mit Schnee zu überschütten. »Ergibst du dich? Na, ergibst du dich?«

Ich entfernte mich weiter.

Was hatte ich eigentlich erwartet? Dass sich Rossi in sein Zimmer einschlösse und grübelte, was er für ein Versager wäre? Oder dass seine Eltern nicht mehr mit ihm sprächen oder ihm die Süßigkeiten entzögen und ihn nicht mehr draußen spielen ließen? Wollte ich das etwa? Kommen und erklären: »Es ist alles in Ordnung, es ist nichts passiert, das kann vorkommen…«

Nein.

Oder hatte ich mir vielleicht doch gerade das ausgemalt?

»Ich ergebe mich!«, rief William. Er hob den Kopf — und hielt inne, als er mich sah. Ich erstarrte. Jetzt zu gehen wäre unklug gewesen. Blitzschnell wandte William seinen Blick von mir ab und wandte sich an Rossi, als ob nichts geschehen wäre:

»Hör mal, du hast Mutter versprochen, ihr zu helfen.«

»Aber…«, murrte Rossi, erhob sich und rieb seine rot gefrorenen Handflächen aneinander. »Wir haben doch noch nicht alles geräumt…«

»Rossi!«, William stand auf und klopfte den Schnee von seinem Sohn. »Erstens hast du es versprochen und zweitens bist du schon ganz durchgefroren. Ich räume den Rest selber weg.«

Rossi diskutierte nicht weiter. Unlustig schlenderte er zum Haus, ohne sich umzusehen und mich zu bemerken.

Ich stand da und wartete.

William kam zu mir: »Guten Morgen, Tikkirej!«

»Guten Tag, William!«, grüßte ich.

William nickte und rieb nachdenklich seine Wange:

»Ja, stimmt. Es ist schon Tag… Ich habe Rossi vorerst weggeschickt. Du hast doch nichts dagegen?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Komm mit!«

Er legte seine schwere, feste Hand auf meine Schulter. Wir gingen in ein kleines Gartenhäuschen und setzten uns. Die Bänke dort waren warm, es war angenehm, auf ihnen zu sitzen.

»Alles ist ziemlich unglücklich, sehr unglücklich gelaufen.« William schüttelte den Kopf. Nachdenklich holte er ein Zigarrenetui aus der Tasche, nahm einen dünnen Zigarillo heraus und zündete ihn an. »Weißt du, Tikkirej, ich war davon überzeugt, dass ich der Erziehung meiner Kinder ausreichend Zeit widme…«

»Machen Sie sich keine Sorgen«, meinte ich. »Rossi war erschrocken. Das ist doch nicht ungewöhnlich! Es ist ja auch wirklich schrecklich, wenn das Eis bricht.«

William widersprach: »Nein, Tikkirej, du musst mich nicht besänftigen! Das ist meine eigene Verfehlung! Ich habe mich zu sehr meiner Arbeit, meinem Künstlerleben, meiner sozialen Verantwortlichkeit hingegeben. Das ist übrigens eine verbreitete Unzulänglichkeit auf unserem Planeten, Tikkirej. Uns geht es einfach zu gut!«

Er begeisterte sich an jedem Wort, so, als ob er einen Artikel schreiben würde, der ihm gut aus der Feder floss.

»Es ist nicht einmal so, dass Rossi und Rosi schlecht erzogen wären, Tikkirej. Es stimmt, teilweise habe ich ihre Erziehung der Schule überlassen und gedacht, dass Literatur, Theater, Fernsehen ihnen die richtige Lebenseinstellung vermitteln würden. Aber ich habe das Wichtigste vergessen! Ihnen fehlt emotionale Wärme, das Gefühl von Liebe und Geborgenheit. Daher kommt auch dieser peinliche Ausbruch von Feigheit. Seelische Härte…« William machte eine resignierende Handbewegung und ein Stück fester, grauer Asche fiel auf den mit Schnee bedeckten Boden des Gartenhäuschens.

»Es ist aber doch nichts passiert«, wandte ich unsicher ein. »Rossi hat einen Fehler gemacht und er ist sich darüber im Klaren.«

»Danke«, erwiderte William und drückte mir fest auf ErwachsenenartdieHand.»Dubisteinsehr verantwortungsvoller und charakterstarker junger Mensch. Ich habe lange über den Vorfall nachgedacht, die ganze Nacht. Und Rossi hat sich große Vorwürfe gemacht. Er ist gerade erst vor wenigen Minuten aufgetaut und wieder fröhlich geworden.«