»Es tut noch ein bisschen weh.«
»Das ist nicht zu ändern. Nimm eine Tablette. Ich bin fertig mit dir.«
Lion öffnete die Augen und schaute mich schuldbewusst an.
Natascha äußerte aus unerfindlichen Gründen: »So…«
Alexander grinste schal und beleidigend.
»Das ist nicht zum Lachen«, unterbrach ihn Stasj. »Kinder, nun erzählt mal! Wer befahl euch, uns zu töten, und wann war das? Warum habt ihr auf ihn gehört?«
»Das war Elli«, berichtete Natascha schuldbewusst. »Sie…« Natascha schaute mich an und vergewisserte sich: »Ist er wirklich ein Phag?«
»Ja«, bekräftigte ich.
»Elli gehört zum Untergrund«, fuhr Natascha fort. »Sie sagte uns, dass die Widerstandsbewegung beschlossen hatte, den Edemer Oligarchen Bermann, der zu Inej übergelaufen war, zu liquidieren…«
»Hier gibt es keinen ernst zu nehmenden Widerstand«, widersprach Stasj entschieden. »Außer der Partisanenbrigade des alten Semetzki… und auch er wird nur aus propagandistischen Zwecken geduldet. Jeder Anschlag der ›Schrecklichen‹, jeder Überfall auf Materiallager, sogar eure lächerlichen Sendungen ›Neuigkeiten des Widerstandes‹ werden zum Zweck der Gegenpropaganda ausgeschlachtet.«
Natascha wurde rot.
»Das ist nicht wahr!«
Stasj holte Luft: »Und wie wahr das ist, Mädchen. Ich möchte nichts Schlechtes über euren Chef und über eure Truppe äußern. Aber wenn es Inej für nötig gehalten hätte, euch zu vernichten, wärt ihr nicht einmal einen Tag lang aktiv gewesen.«
»Aber Elli dachte…«
»Kennst du diese Elli schon länger?«
»Nein.« Natascha schämte sich noch mehr. »Aber sie kam von einem zuverlässigen Menschen! Dem Wächter der Anlagestelle, er hilft uns seit langem.«
»Das ist entweder ein Provokateur oder die Wahrheit wurde im Ministerium für Verhaltenskultur aus ihm herausgepresst. Und eure Elli — ist eine Mitarbeiterin des Geheimdienstes vom Inej.«
»Sie ist doch nur ein Mädchen«, trat Lion für Elli ein.
»Wie auch Natascha.« Stasj lachte auf. »Unsere Sache steht schlecht, Leute. Ist euch klar, was hier gespielt wird?«
Mir war es klar und ich sagte laut: »Du bist enttarnt, stimmt’s? Deshalb wurde befohlen, dich zu vernichten!«
»Im Großen und Ganzen hat es den Anschein.« Stasj nickte. »Aber es gibt da bestimmte Feinheiten. Wenn Inej wirklich den Austausch erkannt hätte, hätte man uns liquidiert oder ein doppeltes Spiel gespielt. Euch zu schicken war dumm. Wenn es nicht…«
»Eine Überprüfung ist?«, mutmaßte Alexander. »Wenn wir diejenigen sind, für die wir uns ausgeben…«
»Wären die drei erfolgreich gewesen«, ergänzte Stasj. »Sie hätten Bermanns Tochter und ihn selbst getötet. Aber derartige Überprüfungen gibt es nicht, der echte Bermann ist für Inej viel zu wertvoll.«
»Das heißt, sie wissen, wer wir sind«, folgerte Alexander ruhig. »Das ist unangenehm. Haben sie eventuell eine Genprobe genommen?«
Stasj winkte ab. »Inej besitzt keine Genkartei der Bermanns. Und sie hatten keinen Grund, uns nochmals zu überprüfen, durch die Standardpersonenkontrolle sind wir gekommen.«
»Nur, dass Bermann einen Sohn an Stelle einer Tochter hat«, konnte ich mich nicht enthalten zu sagen.
»Das ist nicht kontrolliert worden.« Stasj lachte. »Eine Wahl hatten wir so oder so nicht. Es gibt keine weiblichen Phagen. Und für unsere Mission war es unabdingbar, dass Alexander während des Fluges im Zeittunnel bei Bewusstsein blieb.«
»Was sitzen wir hier herum?«, machte sich Natascha wieder bemerkbar. »Wenn sie euch verdächtigen oder entlarvt haben, müssen wir fliehen!«
»Eilen sollte man erst dann, wenn man verstanden hat, was vor sich geht«, erwiderte Stasj ruhig. »Wir stehen noch im Dunkeln. Es ist nicht endgültig geklärt, ob wir entlarvt wurden oder nicht. Es ist nicht klar, was von euch, und unklar, was von uns erwartet wurde. Nichts ist klar…«
Er schaute Alexander an. »Nun, Praktikant, was sagt das Lehrbuch, ausgehend von den vorliegenden Präzedenzfällen, wie man sich in einer derartigen Situation zu verhalten hat?«
»Entsprechend der übernommenen Rolle sind die Handlungen weiterzuführen«, antwortete Alexander schnell.
Stasj nickte.
Aber Alexander war noch nicht fertig. »Die echten Bermanns würden, wenn es ihnen gelungen wäre davonzukommen, ihre Gegner eigenhändig verhören, eventuell unter Einsatz von Folter und psychotropen Mitteln. Danach hätten sie die Gegner entweder liquidiert oder sie der Wache übergeben, um genauere Aufklärung einzufordern.«
Stasj hakte interessiert nach: »Du schlägst vor, erst zu foltern und sie danach zu töten?«
Alexander warf einen Seitenblick auf mich. Er antwortete unsicher: »Nicht unbedingt. Es würde ausreichen, als Wahrheitsserum memerotrophe Präparate der Indolonreihe einzusetzen. Grundlage: Tiefenverhör. Nebenwirkungen: retrograde Amnesie für alle Ereignisse der letzten zwei bis drei Wochen.«
Stasj schwieg.
»Ich bestehe auf dieser Variante«, beharrte Alexander, der sich zunehmend an seinen Vorschlägen berauschte. »Unsere Mission ist zu wichtig, um sie in Frage zu stellen. Letztendlich ist das durchaus human.«
»Ich werde dir selbst eine Amnesie verpassen, und zwar ohne Präparate!«, schrie Lion und sprang auf. »Schweinehund!«
»Du hältst die Klappe! Euretwegen ist die ganze Operation…«, begann Alexander sich zu rechtfertigen. Er kam nicht weiter. Lion schnappte sich ein Kopfkissen vom Bett und warf sich auf ihn. Das sah recht lustig aus, als ob sie wie die Kinder eine Kissenschlacht veranstalten wollten. Aber Lion machte durchaus keinen Spaß. Als Alexander, ohne aufzustehen, mit Leichtigkeit das auf ihn zufliegende Kopfkissen fing, hockte sich Lion äußerst elegant hin, drehte sich und warf mit seinen Beinen Alexander zusammen mit dem Stuhl um. Unmittelbar darauf stürzte er sich auf ihn, nahm das Kopfkissen und drückte es kräftig auf das Gesicht des Phagen.
Ich sprang auf und wusste nicht, was ich tun sollte. Mich einmischen? Sie auseinanderbringen? Oder Lion helfen?
Natascha blinzelte. Sie war halt ein Mädchen, was war da von ihr schon anderes zu erwarten.
Und Stasj beobachtete völlig kaltblütig die Schlägerei. Wie konnte er nur!
Alexander wand sich hervor, schüttelte Lion ab und versuchte zuzuschlagen, aber Lion nahm rechtzeitig seinen Kopf zur Seite und der kleine Phag hieb mit aller Kraft seine Faust auf den Boden. Das tat sicher höllisch weh, aber er gab keinen Ton von sich. Er ging Lion an den Hals, während Lion ihn immer noch schweigend und konzentriert mit seinen Fäusten ins Gesicht schlug. Er zielte auf die Nase, traf aber das Jochbein — Alexander verstand es ebenfalls, auszuweichen.
»Aufhören…«, sagte Stasj in diesem besonderen Ton, in dem die Phagen sprechen konnten. Lion und Alexander ließen sofort voneinander ab, sprangen zurück und erhoben sich.
»Der ist ja verrückt!«, beklagte sich Alexander empört. »Ich versuche ihm das Leben zu retten! Und er hat mir auch noch mein T-Shirt zerrissen!«
»In Nahkampf bist du durchgefallen«, bewertete Stasj, als ob wir in der Schule wären. »Du hast mit vollem Krafteinsatz gekämpft und konntest ihn nicht überwältigen. Schlecht, sehr schlecht, Alex!«
Alexander senkte den Kopf, brummelte etwas vor sich hin, begehrte aber nicht auf.
»Der blaue Fleck wird bemerkenswert«, fuhr Stasj fort. »Ich hätte ihn ungern selbst verursacht, gut dass Lion eingesprungen ist. Setzt euch!«
Es setzten sich nicht nur die Raufbolde, sondern auch Natascha und ich.
»Fahr fort, Praktikant«, forderte Stasj auf. »Wie Bermann handeln würde, hast du erklärt. Wie muss ein Phag handeln?«
»Genauso wie Bermann«, erwiderte Alexander beleidigt.
Stasj schüttelte den Kopf. »Und du warst der Beste in der Gruppe? Es sieht ganz so aus, als ob die Phagen aussterben würden. Das wäre zu zeitig. Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass wir noch zwei, drei Generationen durchhalten… Wir können nicht wie Bermann handeln, Alex. Das würde nur bestätigen, dass an Stelle von Bermann unbarmherzige Profis nach Neu-Kuweit gekommen sind. Wir müssen so handeln, wie sich weder Bermann noch die Phagen verhalten hätten.«