Danach war Schluss.
Sie wurden gelobt, wurden gefördert, doch sie zu umarmen oder zu streicheln wurde nicht empfohlen.
Aber so ist das Leben: Die Kämpfer gegen das Böse haben es nicht einfach. Natürlich nur dann, wenn es keine Streifenpolizisten sind, die für Ordnung in der Stadt sorgen, sondern solche Supermänner wie die Phagen oder die Garde des Imperators. Die wird ebenfalls von Kindesbeinen an ganz besonders erzogen.
Irgendwann einmal hatte Stasj einen Satz gesagt, der mich kichern ließ, dessen Sinn ich in Wirklichkeit aber nicht verstand: »Um gegen das ungeheuer Böse zu kämpfen, muss man ungeheuer gut sein.«
Wenn ich mir Alex jetzt anschaute, verstand ich das. Außerdem wusste ich, dass ihn Stasj niemals streicheln oder ihm eine Kopfnuss geben würde. Höchstens bei einer Aufgabe wie der jetzigen, wo Stasj den besorgten Vater spielte, aber dieses »So tun, als ob« war etwas ganz anderes. Und Alex selbst erwartete auch nicht, dass man ihn umarmen oder ihm etwas Liebevolles sagen würde.
Er war ein Soldat.
Er war die kleine Verkörperung des ungeheuer Guten.
Auch wenn ich auf einem elenden Planeten aufgewachsen war und nicht einmal einen zehnten Teil dessen, was Alex gelernt hatte, wusste oder konnte, auch wenn er jetzt ein Held war und ich nur ein Junge, der den Helden zwischen den Füßen herumlief — er tat mir leid. Er war viel unglücklicher, als ich jemals gewesen war.
Wie gut, dass ich kein Phag war!
»Wisst ihr, wie die Karriere von Inna Snow in Wirklichkeit begonnen hat?«, fragte währenddessen Alex. »Nein? Wir mussten alle Archive durchsieben, um es herauszufinden. Sie beendete ihr Studium der Soziologie, arbeitete als Soziologin und Psychologin und schrieb ihre Magisterarbeit. Dann begann auf Inej eine Wirtschaftskrise, Inna Snow verlor ihre Arbeit, fing aber als Nachrichtensprecherin beim Fernsehen an. Sie war äußerst ansehnlich…«
»Also hat sie ein normales Gesicht?«, fragte Lion interessiert. »Denn sie versteckt es die ganze Zeit unter einem Schleier…«
»Ein hübsches Gesicht«, bestätigte Alex nachdrücklich. »Als Nachrichtensprecherin war sie sehr populär. Aber vor sieben Jahren hörte sie auf, selbst vor der Kamera zu stehen, und übernahm eine Tätigkeit in der Marketingabteilung, um zu erforschen, welche Sendungen den Zuschauern besser gefallen, und dann entsprechende Empfehlungen zu erarbeiten. Danach wurden die Fernsehprogramme vom Inej ungeheuer beliebt. Das waren Kindersendungen wie ›Die Bastion des Imperiums‹, Fernsehserien für Hausfrauen, Shows für Männer und Bildungssendungen, zum Beispiel, wie man in zehn Minuten ein Mittagessen kocht.«
Ich erinnerte mich, dass ich auch manchmal »Lecker!« geschaut hatte — eine Sendung, in der lustige junge Schauspieler allerlei schmackhafte Gerichte zubereiteten und gleichzeitig Mundharmonika oder Gitarre spielten, jonglierten oder auf andere Art und Weise das Publikum unterhielten. Also gab es sogar bei uns einige Programme vom Inej.
»Bestimmt ist sie sehr talentiert«, dachte Alex laut. Wiederholte er die Meinung von Stasj oder hatte er selbst darüber nachgedacht? Ich wusste es nicht. »Sie hatte ein Gespür dafür, was bei den Zuschauern ankam und was nicht. Das konnte man natürlich schon vor ihr feststellen, aber sie war besser als alle anderen. Wie sie jedoch dazu kam, Programme in die Menschen einzuschleusen und wie sie diese in den Sendungen verstecken konnte — das wissen wir bislang noch nicht. Vielleicht hat ihr dabei jemand geholfen. Sie konnte ja auch ohne jegliche Programmierung Menschen davon überzeugen, ihr zu helfen. Und mit den Programmen erst… Zunächst erreichte sie, dass sie zur Präsidentin des Inej gewählt wurde.
Sie war nur sehr wenig als Politikerin in Erscheinung getreten, lediglich einige Male auf dem Bildschirm zu sehen — und mit einem Mal wurde sie von allen verehrt! Der Präsident selbst ging in den Ruhestand und veranlasste vorgezogene Wahlen. Könnt ihr euch das vorstellen? Damals war noch niemandem klar, was vor sich ging. Sie hatte das Programm auf ihrem Heimatplaneten aktiviert. Und es begann…«
»Alex«, meinte ich, »sag mal, hat man bereits herausgefunden, wie diese Programme funktionieren?«
Er nickte. »Ja, man hat es herausgefunden. Durch ihn…« Er nickte in Richtung Lion, der vor Stolz rot wurde. »Das Gehirn des Menschen kann arbeiten wie ein Computer. Dieser Effekt wird bei Onlinerechenoperationen genutzt, aber dabei berechnet das Gehirn eine fünfdimensionale Navigation, und hier schafft es eine virtuelle Welt, in der der Mensch zu leben beginnt. Alle diejenigen, bei denen das Programm funktionierte, bemerkten es nicht. Als sie aufwachten, glaubten sie, dass sie lebten wie zuvor, Inna Snow ihre Präsidentin war und der Imperator plötzlich beschlossen hatte, alle zu verdrängen, worauf der Krieg begann. In einer Nacht durchlebten sie ein ganzes Leben. Und dieses Leben überzeugte sie davon, dass Inna Snow zu den Guten gehörte, dass sie die beste Regierungschefin sei…«
»Und hatten alle die gleichen Träume?«
»Natürlich nicht. Wie können die Träume gleich sein bei einem Akademiker, einer Hausfrau und einem dreijährigen Kind? Alle hatten verschiedene Träume. Diejenigen, die von Abenteuern träumten, zogen in den Kampf. Wer von Reichtum und einem Leben in einem Penthouse träumte, wurde reich und lebte dort. Wer von Liebe träumte, verliebte sich… Aber immer waren Inna Snow und der Imperator präsent. Snow verkörperte das Gute, der Imperator das Böse.«
»Aber dann endete der Traum«, meinte ich und schaute aus den Augenwinkeln auf Natascha. Die war völlig mit den Cremes, Parfüms und Pudern beschäftigt. Wie ist sie nur im Wald ohne das alles zurechtgekommen?
»Der Traum ging zu Ende und geriet in Vergessenheit«, sagte Alex nickend. »Das war auch so vorgesehen. Allerdings hatte bereits eine Charakterveränderung stattgefunden. Am wenigsten wirkten diese Träume auf ältere Menschen. Sie hatten bereits viel erlebt, und es war schwer, deren Ansichten zu ändern. Einige überstanden es nicht, wurden verrückt oder versanken in Katalepsie. Dafür veränderte sich die Jugend, besonders die Kinder, deren Charakter noch nicht ausgeprägt war, sofort so, wie Inej beabsichtigt hatte. Also nicht Inej, sondern Inna Snow!«
»Dann ist sie allein an allem schuld?«, fragte Lion, der Alex aufmerksam zuhörte.
Der junge Phag nickte. »Ja, es sieht ganz danach aus. Das gibt es selten in der Geschichte, dass ein einzelner Mensch dermaßen viel Böses anrichten konnte. Wir haben virtuelle Geschichtssimulatoren, die recht zuverlässig sind. Wenn du einen großen Diktator oder einen Gelehrten aus der Geschichte entfernst, verändert sich wenig. So würde zum Beispiel der Zweite Weltkrieg lediglich fünf Tage kürzer sein. Oder an Stelle von Deutschland würde ein anderes Land den Krieg beginnen… Oder Napoleon hätte in Waterloo gesiegt, dafür aber fast seine gesamte Armee verloren und man hätte ihn im Herbst abgesetzt. Alles in allem bleibt das Resultat ziemlich gleich. Als wir jedoch versuchten, Inna Snow herauszunehmen, änderte sich alles. Inej blieb ein normaler, friedlicher Planet. Keine Aufstände, keine Programmierung der Psyche.« Er schwieg und bekannte dann unlustig: »Und es sieht danach aus, dass man Snow nicht töten kann.«
»Wieso das denn?«, wollte ich wissen.
»Es scheint ganz so, als habe sie sich klonen lassen und ihr Gedächtnis den Klonen überschrieben. Also, wenn man eine Inna Snow tötet, erscheint unmittelbar darauf eine andere. Eine identische. Das ist natürlich keine Unsterblichkeit, aber es gibt keinen Machtwechsel.«
»Ich habe gehört, dass der Großvater unseres Imperators ebenfalls ein Klon war«, äußerte Lion. Herausfordernd schaute er zu Alex. »Es gab solche Gerüchte.«
Der Phag rang mit sich und gab dann zu: »Ja. Uns wurde davon erzählt. Aber das war etwas anderes. Der vorherige Imperator konnte keine Kinder bekommen. Deshalb schuf er einen Klon und erzog ihn wie einen Erben.«