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Sie lachten gemeinsam, bis Jonas seine Fototasche nahm und sie durch das Loch im Zaun schob, wo er sie vorsichtig ins Gras gleiten ließ.

„Dann lass uns gehen. Wir haben noch einiges vor.“

Vanessa spürte seine Hände auf ihren Hüften, als er sie sanft aber bestimmt vor sich her schob. Vorsichtig stieg sie über den niedrigen Betonsockel des Zauns und betrat das dahinter liegende Grundstück. Jonas folgte ihr.

Bis zum Schloss waren es noch gut einhundert Meter Luftlinie. Zwischen den beiden nächtlichen Besuchern und dem alten Bauwerk befand sich ein dichter Wald aus Kiefern und Buchen. Er endete am Ufer eines Weihers, der sich über die gesamte Rückseite des Schlosses erstreckte.

„Sofern man es durch die Bäume hindurch beurteilen kann, ist es ziemlich imposant. Vor allem jetzt, bei Vollmond. Es sieht beinahe so aus, als würde es leuchten. Wirkt irgendwie unheimlich.“ Sie lachte kurz auf. „Wahrscheinlich liegt das aber nur an der traurigen Vergangenheit dieses Schlosses. Eigentlich wäre es wunderschön.“

„Was denn für eine Vergangenheit?“, fragte Jonas beiläufig. Er war damit beschäftigt, seine Kamera aus der Fototasche zu holen, einen Blitz und das richtige Objektiv zu montieren.

„Hast du eigentlich die geringste Ahnung, was für einen Ort du dir da für deine Fotos ausgesucht hast?“, fragte Vanessa, während sie das Schloss betrachtete. Das Licht des Vollmondes verlieh ihm einen kalten, blauen Schimmer.

Gruselig.

„Ich hoffe, einen guten.“

„Ich weiß nicht so recht.“

„Was ist los? Gefällt es dir nicht?“

„Doch schon, aber…“

„Warte mal ab. Wir werden hier ganz tolle Fotos machen. Vanessa, du siehst wirklich umwerfend aus und in dieser Kulisse werden die Bilder atemberaubend werden. Glaub mir, ich hab ein untrügliches Gespür dafür.“

„Mr. Lundqvists Gespür für Fotos, ja?“

„So in etwa.“

„Trotzdem. Ich nehme an, du weißt nicht, was es mit diesem Schloss auf sich hat, oder?“

„Ich habe ein bisschen recherchiert. Gegoogelt und so. Aber so richtig viel habe ich nicht gefunden. Außer auf so einer Webseite, auf der sich irgendwelche Spinner gegenseitig Gruselgeschichten erzählen.“

„Irgendwelche Spinner? Was wurde denn dort geschrieben?“ Vanessa war stehen geblieben und schaute suchend durch die dichten Zweige zum Schloss hinüber. Es schien, als erwarte sie, dort etwas Bestimmtes zu entdecken.

„Ich weiß nicht mehr so genau, ich habe es nur überflogen. Irgendetwas mit verschwundenen Kindern, glaube ich. Warum fragst du?“

„Okay, da du dich mit der örtlichen Geschichte offenbar nur äußerst unzureichend auseinandergesetzt hast, werde ich dir als Kind dieser Gegend eine kurze Nachhilfestunde geben. Setz dich!“ Sie deutete auf einen umgestürzten Baumstamm, der etwa einen halben Meter über dem Waldboden hing.

KAPITEL 17

„Dieses Schloss…“, begann sie und deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf das Gemäuer im Hintergrund. „…wurde irgendwann im vorigen Jahrhundert gebaut. Es gehörte einem reichen Reeder hier aus der Gegend, dessen Schiffe Handelsgüter aus Südeuropa bis nach Skandinavien transportierten. Eines Tages verlor er durch einen schweren Sturm die Hälfte seiner Flotte. Er stand von einem Tag auf den anderen vor dem Ruin.

Aus lauter Verzweiflung brachte er zunächst seine Familie und anschließend sich selbst um. Nachdem er in einer eiskalten Vollmondnacht, so wird es jedenfalls überliefert, zunächst seiner Frau und dann seinen drei Kindern die Kehlen durchgeschnitten hatte, erhängte er sich in seinem Arbeitszimmer, das sich dort oben im Turm befunden haben soll.“

„Tolle Geschichte. Aber ich glaube nicht, dass wir uns davon…“

„Psst. Hör zu. Es geht noch weiter. Da es keine Erben gab…“

„Klar, der Typ hatte ja alle umgebracht.“

„Soll ich weitererzählen, oder nicht?“ Ihre Stimme klang ein wenig verärgert.

„Sorry Darling. Go on.“

„Also, da es keine Erben gab, fiel das Schloss in den Besitz der Stadt. Über fünfzig Jahre lang stand es leer und merkwürdige Geschichten begannen die Runde zu machen. Die Menschen im Ort fingen an zu tuscheln, im Schloss gingen die Geister der ermordeten Unternehmerfamilie um. Und manch einer behauptete steif und fest, des Nachts den toten Reeder an einem Seil hinter dem Fenster seines Turmzimmers hängen gesehen zu haben. Sogar das Knarren der Deckenbalken, an denen er sich aufgehängt hat, behaupteten sie, gehört zu haben.“

„Daran glaubst du nicht wirklich, oder?“

„Natürlich nicht. Und die Leute der Stadtverwaltung auch nicht. Also beschlossen sie irgendwann, das Gebäude wieder zu nutzen. Sie sanierten es und funktionierten es zu einem Kinderheim um.“

„Okay. Und weiter?“

„Es dauerte nicht lange, bis erneut erste Gerüchte aufkamen. Gerüchte über verschwundene Kinder.“

„Du meinst, die Kinder sind aus dem Heim abgehauen?“

„Das zumindest wollte man der Allgemeinheit weismachen. Sofern man das Verschwinden nicht gänzlich bestritten hat.“

„Aber auch daran glaubst du nicht.“

„Es spielt keine Rolle, was ich glaube. Das alles geschah ja lange vor meiner Zeit. Das Heim wurde Mitte der Siebziger Jahre geschlossen. Aber die Menschen damals waren davon überzeugt, dass dort etwas Ungeheuerliches vor sich ging.“

„Und was soll das gewesen sein?“

„Es hieß immer wieder, dass dort Kinder und Jugendliche, vor allem Mädchen und junge Frauen, regelmäßig gefoltert und missbraucht wurden. Immer wieder soll es äußerst brutale Vergewaltigungen gegeben haben, an denen sich ein Großteil des Personals beteiligt hat. Regelrechte Orgien sollen abgehalten worden sein. Auch Leute von außerhalb hätten sich daran beteiligt, erzählte man sich hinter vorgehaltener Hand. Stinkreiche Typen, die mit ihren scheinheiligen Spenden die Finanzierung des Kinderheims überhaupt erst möglich gemacht haben.

Es geht sogar noch weiter. In einigen Fällen wurden Mädchen als Sexsklavinnen in geheimen Räumen und Verließen gehalten. Andere wurden als solche verkauft. An irgendwelche Perversen.

Viele der Kinder sollen die grässlichen Torturen nicht überlebt haben. Aber ihre Leichen wurden einfach weggeschafft. Diese Kinder wurden dann offiziell als entlaufen geführt und polizeilich gesucht. Natürlich ist nicht ein einziges von ihnen jemals wieder aufgetaucht.“

„Und das alles ist niemandem aufgefallen? Und woher weißt du das alles?“

„Einige Jahre vor der endgültigen Schließung des Heims verdichteten sich die Gerüchte um die schrecklichen Ereignisse und es gab sogar Hausdurchsuchungen.“

„Lass mich raten. Es wurde nie etwas entdeckt?“

„Genau so ist es. Entweder wussten die Verantwortlichen vorher Bescheid, weil sie rechtzeitig gewarnt wurden, oder das Ganze war tatsächlich so geschickt eingefädelt, dass man einfach keine Spuren gefunden hat. Auf jeden Fall kam die Sache ins Rollen, weil eine neue Leiterin des Heims von der Sache Wind bekommen hatte und nicht bereit war, die Augen davor zu verschließen.

Spenden hin oder her.

Sie hat ihre Stellung wenige Wochen nach ihrem ersten Arbeitstag gekündigt und die Polizei informiert.“

„Und dann?“

„Die Polizei hat ihre Vorwürfe scheinbar ernst genommen. Wenigstens sollte es daraufhin eine hochrichterliche Anhörung geben.“

„Sollte?“

„Ja. Am Tag vor dem angesetzten Termin wurde die ehemalige Heimleiterin von einem Auto überfahren und tödlich verletzt. Am helllichten Tag. Mitten in der Stadt. Fahrerflucht. Keine Zeugen.“

„Klingt nach einem abgekarteten Spiel.“

„Ziemlich.“

„Und damit endet die Geschichte des Horrorheims?“