„Jedenfalls ist es einige Jahre später geschlossen worden. Die genauen Gründe kenne ich nicht. Die Gerüchte um das Heim hielten sich jedenfalls hartnäckig und wurden auch niemals aufgeklärt.
Angeblich soll es die geheimen Keller und Verließe aber immer noch geben. Auch die Frage, wohin die Kinderleichen verschwunden sind, von denen immer wieder die Rede war, konnte bis heute nicht beantwortet werden. Und den Zugang zu diesen Geheimräumen hat auch noch niemand entdeckt. Wobei das Gelände ja auch abgesperrt ist und eigentlich niemand hier herumschnüffelt.“
„Oh, wirklich? Es ist abgesperrt? Ist mir gar nicht aufgefallen.“
„Spinner.“ Sie knuffte ihn freundschaftlich in die Seite.
„Auf jeden Fall bin ich davon überzeugt, dass unsere Fotos mit dieser Schauergeschichte im Rücken noch besser werden. Du erinnerst dich, was ich dir zum Thema Stimmung gesagt habe?“
Vanessa antwortete nicht und begann stattdessen, sich lasziv auf dem Baumstamm zu räkeln.
Jonas schaute durch den Sucher seiner Kamera und machte die ersten Fotos.
Das Blitzlicht seiner Kamera tauchte die Umgebung in grelles, weißes Licht, das Vanessa an ein lautloses Sommergewitter erinnerte.
Sie warf ihren Kopf nach hinten. Ihre langen Haare fielen wie ein Wasserfall über den Baumstamm und flossen geschmeidig dem Waldboden entgegen. Die unebene Rinde des Stammes kratze hart über ihren Rücken. Vanessa umfasste ihre Brüste mit beiden Händen und begann, sie gleichmäßig zu massieren.
„Perfekt! Man merkt, dass du so etwas nicht zum ersten Mal machst. Weiter so!“
Immer wieder klackte der Spiegel der Kamera und ihr Blitz riss die düstere Umgebung für Sekundenbruchteile aus dem fahlen Mondlicht.
Vanessa vergaß die Welt um sich herum, ließ sich fallen und gab sich vollends dem Shooting hin. Ihre Unterschenkel baumelten rechts und links am Baumstamm herunter. Ihr Top rutschte einige Zentimeter nach oben. Der schmale Spalt gab den Blick auf ihren flachen Bauch sowie auf ein zierliches Trible-Tattoo unmittelbar neben ihrem Nabel frei.
„Warte“, rief Jonas. „Genau so. Ja, das ist super. Spitze. Vanessa, das sind großartige Bilder.“ Er schoss noch einige Fotos aus unterschiedlichen Positionen, bevor er die Kamera auf dem Baumstamm ablegte und Vanessa seine Hand zum Aufstehen reichte.
„So, ich glaube, hier haben wir alles. Lass uns reingehen.“
Vanessa verkrampfte innerlich und wurde ruckartig aus ihrer Entspannung gerissen. Sie griff nach seiner Hand und setzte sich auf.
„Du willst da wirklich rein? Hast du mir nicht zugehört, was ich dir über das Schloss erzählt habe?“
„Doch, aber wir sind uns doch einig, dass es keine Gespenster gibt und dass die übrigen Geschichten, so grauenvoll sie auch sein mögen, uns nicht wirklich gefährlich werden können, ist auch offensichtlich. Oder?“
Vanessa schwieg einen Augenblick. Eigentlich war es ihr in dem Moment klar gewesen, als Jonas sie durch den Wald auf das Grundstück gelotst hatte. Und dennoch hatte sie insgeheim gehofft, das alte Gemäuer nicht betreten zu müssen.
„Du meinst es also wirklich ernst“, stellte sie schließlich fest.
„Na klar. Eine bessere Kulisse können wir doch überhaupt nicht finden. Es gibt dort sogar noch ein altes Schlafzimmer, in dem…“ Er brach den Satz ab.
Zu spät.
„Moment mal.“ Vanessa sprang von dem Baumstamm herunter und trat direkt vor ihn. Ihre Augen reflektierten das Licht des Mondes und funkelten ihn angriffslustig an. „Willst du damit sagen, dass du schon dort drin warst?“ Wieder deutete sie auf das Schloss.
„Ich habe doch gesagt, ich habe einige Vorbereitungen getroffen.“
„Ja, aber ich dachte, du hättest nur den Zaun angesägt. Was ich, nebenbei bemerkt, schon für mehr als genug halte.“
„Ich wollte dir ersparen, dass wir erst die Tür aufbrechen müssen, bevor wir die Bilder machen können.“
„Wie bitte? Die Tür aufbrechen? Das darf doch wohl nicht wahr sein.“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und stampfte mit wütenden Schritten davon, bevor sie wieder kehrtmachte und sich mit verschränkten Armen vor ihm aufbaute. „Jonas, tue mir bitte einen Gefallen. Ich will nichts mehr von deinen Vorbereitungen wissen. Lass uns von mir aus dort hinein gehen und unsere Fotos machen. Und je schneller wir wieder draußen sind, desto besser.“
„Abgemacht.“
Er lächelte und sie war sich nicht sicher, ob sie ihn am liebsten geküsst oder ihm doch lieber eine reingehauen hätte.
„Hast du mir nicht vorhin erzählt, dass du keinen großen Wert auf Vorbereitungen legst? Dass du die Dinge lieber spontan geschehen lässt?“
„Keinen großen Wert auf die Planung des Shootings. Den Zugang zur Location im Vorfeld sicherzustellen ist etwas anderes.“
Wieder dieses schelmische Grinsen, das ihn um Jahre jünger wirken ließ.
Vanessa griff nach seiner Hand und zog ihn hinter sich her.
„Na, dann lass uns mal anfangen. In Wahrheit kann ich es nämlich kaum erwarten, dein geheimnisvolles Schlafzimmer zu besichtigen.“
KAPITEL 18
Der Wagen raste die Landstraße entlang, schlingerte hier und dort in einer engen Kurve oder an Stellen, an denen der Wind Sand und Schmutz aus den angrenzenden Dünenwäldern auf die Fahrbahn geweht hatte.
Ronnie hatte das Verdeck geschlossen, denn der hereinbrechende Abend brachte Schatten und Kälte. Er sah auf die Uhr. Eine verdammte Stunde hatte ihn der Wechsel des Vorderreifens gekostet. Eine Stunde, während der die Suche nach dem geheimnisvollen Leichenwagen, die Suche nach Sandy, ins Stocken geraten war. Ihm wurde übel, als er an ihren vollkommen überflüssigen Streit dachte, der sie überhaupt erst in diese Situation gebracht hatte.
Hier irgendwo musste es gewesen sein. An diesem Abschnitt der Landstraße hatte er den Leichenwagen entdeckt und diesen Typen, Kid, mit zu der Autowerkstatt genommen. Und offenbar hatte ihn sein erstes Gefühl nicht getäuscht. Irgendetwas hatte mit diesem Kerl nicht gestimmt. Und so wie es aussah, wusste er nun auch, was es gewesen war. Offenbar hatte er ganz genau gewusst, wo sich Sandy befand. Entweder, er hatte sie irgendwo abgesetzt, wobei Ronnie befürchtete, dass hier eher der Wunsch Vater des Gedanken war, oder er hatte sie selbst irgendwo versteckt.
Zum Beispiel in eben jenem Leichenwagen.
Und hatte Ronnie nicht den Eindruck gehabt, Kid habe sich vor ihrer Abfahrt mit jemandem im Auto unterhalten?
Konnte das womöglich Sandy gewesen sein?
Aber warum sollte sie das tun? Warum sollte sie sich weigern, ihm gegenüberzutreten?
Nein, das konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Es konnte nur eine einzige Erklärung geben.
Kid war mit Sandy in dieser Disco ins Gespräch gekommen, hatte sie irgendwie davon überzeugt, mit ihm in seinem Wagen wegzufahren und hatte es irgendwie geschafft, sie zu überwältigen und in diesem Auto zu verstecken.
Himmel, gab es ein besseres Versteck um jemanden wegzuschaffen, als einen Leichenwagen?
Scheiße! Scheiße! Scheiße!
Ronnie schlug wütend auf das Lenkrad.
Ihm kam der Gedanke, die Polizei zu informieren. Aber vermutlich würde sie sowieso nichts unternehmen, da Sandy bei weitem keine vierundzwanzig Stunden vermisst wurde. Sofern man im behördlichen Sinn überhaupt von vermisst sprechen konnte. Nein, er würde die Sache zunächst selbst in die Hand nehmen müssen.
Sein Blick streifte ein am Straßenrand aufgestelltes Kreuz. Es war nicht das Kreuz an sich, das seine Aufmerksamkeit schon beim ersten Mal erregt hatte, als er daran vorbeigefahren war. Stumme Zeugen dieser Art gab es hier in der Gegend zuhauf. Es waren die frischen Blumen. Ein wahres Blumenmeer ergoss sich rund um das Holzkreuz, dass noch keinerlei Anzeichen von Verwitterung aufwies. Es konnte noch nicht lange hier stehen. Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen aus, als er den eingravierten Namen las: