„Aber dein Bruder nicht.“
„Nein. Mein Bruder nicht. Es war ihm todernst. Wie ernst, habe ich dann ein paar Wochen später erfahren.“
„Was war passiert?“
„Ich kam aus der Schule nach Hause und Adam hockte im Schneidersitz auf meinem Bett. Er grinste so merkwürdig und ich fragte ihn, was los sei.
>Komm mit, ich zeig´s dir<, sagte er nur und lief aus dem Haus.
Obwohl ich ihn immer wieder fragte, wohin er wolle, gab er mir keine Antwort.
Mit unseren Fahrrädern fuhren wir zu der alten Hütte. Vor der Tür warf Adam sein Rad ins Gras und sah mich mit ernstem Blick an.
>Du weißt, was ich dir versprochen habe? Vor ein paar Wochen, als die Sache mit dieser kleinen Schlampe passiert ist.<
Ich wusste natürlich, wen er meinte und nickte. Und ich wusste auch noch, was er mir damals versprochen hatte. Eine üble Vorahnung beschlich mich.
>Ich hab sie dir besorgt<, sagte er. Obwohl er mein Bruder war, machte sein Lächeln mir plötzlich Angst. Ich wusste, dass er manchmal ausrastete und die Kontrolle über sich verlor. Aber seitdem er von unserem Kinderarzt irgendwelche Medikamente dagegen bekommen hatte, war es eigentlich besser geworden.
>Was meinst du damit?< Ich sah ihn fragend an.
>Komm mit<, sagte er nur und verschwand in der Hütte.“
KAPITEL 33
Er zählte sechs Pakete.
Sie alle waren sorgfältig mit Frischhaltefolie umwickelt worden, doch die Umrisse der Körper waren deutlich erkennbar.
Ronnie würgte, während der Strahl der Lampe nervös von einem Körper zum nächsten huschte. Durch die zahlreichen Folienschichten hindurch konnte er die Konturen menschlicher Züge nur schemenhaft erkennen.
Haare.
Sie alle hatten lange Haare. Er blickte in Gesichter mit weit aufgerissenen, toten Augen. Unter der Folie sah er nackte Brüste. Bei den Toten handelte es sich ausnahmslos um Frauen.
Um junge Frauen, wie Ronnie zu erkennen glaubte.
Die Mädchen waren unbekleidet in Folie gewickelt und hier abgelegt worden.
Welches kranke Arschloch macht so etwas?
In diesem Augenblick dachte er an Sandy.
Sein Mund wurde trocken, seine Hände feucht. Plötzlich begann er zu frieren. Er hörte, wie seine Zähne aufeinander schlugen.
Sandy. Oh mein Gott, Sandy. Hat dich dieser Dreckskerl in seiner Gewalt?
Hektisch ließ er den Strahl der Lampe über die Wände gleiten. Er musste hier raus. Er musste einen Weg finden, sich aus diesem Verließ zu befreien und Sandy zu Hilfe zu kommen.
Du bist so ein verdammter Esel. Warum hast du nicht vorhin schon die Polizei gerufen?
Wieder fiel ihm sein Handy ein, das in aller Seelenruhe und völlig nutzlos auf dem Beifahrersitz seines Wagens lag
Ganz große Klasse!
Wieder und wieder leuchtete er die Wände ab. Und entdeckte schließlich etwas, das erneute Hoffnung in ihm aufkeimen ließ.
Direkt vor ihm in der Wand klaffte ein großes, schwarzes Loch.
Die Öffnung war gut einen Meter hoch und zudem breit genug, dass Ronnie ohne Probleme hindurchpassen würde. Er trat vor die Öffnung und leuchtete hinein.
Direkt hinter dem Loch begann ein Gang.
Ronnie schob sich vorsichtig hindurch und trat in den dahinter liegenden Tunnel. Zwar war er hoch genug, dass Ronnie aufrecht gehen konnte, dafür aber relativ schmal. Ohne Mühe konnte er die Wände rechts und links von sich gleichzeitig mit den Handflächen berühren.
Ronnie richtete den Strahl der Lampe auf den Boden und marschierte los.
Je weiter er dem Tunnel folgte, desto mehr wurde der ekelhafte Gestank durch den modrigen Geruch des alten, feuchten Mauerwerks abgelöst. Die Wände des Ganges waren, wie der Raum zuvor, mit Backsteinen verkleidet, die über ihm eine bogenförmige Decke bildeten.
Immer wieder lief er trotz seiner Lampe in eines der riesigen Spinnweben, die sich quer über den Gang spannten. Schwarze Spinnen mir riesigen Körpern und haarigen Beinen hockten in ihren Netzen und lauerten auf Beute. Einige ergriffen die Flucht, wenn der Strahl der Lampe sie erfasste, andere blieben wie versteinert an Ort und Stelle und begannen hektisch auf und ab zu wippen, wenn Ronnie sich ihren Netzen näherte und diese schließlich mit seiner Lampe zerstörte.
In Anbetracht der Unmenge von Spinnweben schien es Ronnie offenkundig, dass der Gang schon eine Ewigkeit nicht benutzt worden war.
Er hat die Toten einfach durch das Loch in der Decke geworfen, dachte er und ging weiter, während sich erneut ein klebriges Spinnennetz über sein Gesicht legte.
Der Lichtkegel huschte über den aus festem Lehm bestehenden, staubigen Boden. Er war mit unendlich vielen Steinen übersät und Ronnie fragte sich, ob diese im Laufe der Jahre wohl aus der Decke herausgebröckelt waren. Ein Gefühl der Beklemmung stieg in ihm auf, als er darüber nachdachte, dass dieser alte Gang jederzeit einstürzen und ihn unter sich begraben konnte.
Wenn ich Glück habe, bin ich sofort tot. Wenn nicht, hocke ich hier in der Falle wie diese Bergleute in Südamerika. Nur, dass niemand weiß, dass ich überhaupt hier bin.
Plötzlich öffnete sich der Gang zu einer Kammer mit einem quadratischen Grundriss. Mit seiner Lampe leuchtete er die Wände ab und konnte kaum glauben, was er dort entdeckte. Auf insgesamt drei Ebenen waren Nischen in die steinernen Wände eingelassen worden, die ihn entfernt an Regale in einem Supermarkt erinnerten. Doch anstelle von Konserven, Kartons und Flaschen, wurde in ihnen etwas völlig anderes aufbewahrt.
Särge.
Ronnie fröstelte, als er die unheimliche Ansammlung genauer in Augenschien nahm. Es handelte sich ausnahmslos um einfachste Holzsärge, ohne jegliche Art von Verzierungen oder Beschlägen. Und noch etwas fiel im auf. Sie alle waren beängstigend klein.
Kindersärge. Scheiße, das sind Kindersärge.
Übelkeit stieg in ihm auf.
Umgehend verließ er die unheimliche Kammer durch einen Durchbruch auf der dem Eingang genau gegenüberliegenden Seite. Dahinter setzte sich der schmale Gang fort.
Er beschleunigte seine Schritte, blieb aber abrupt stehen, als im Licht der Lampe ein Loch im Boden erschien. Es zog sich beinahe über die komplette Breite des Ganges, nur an den Seiten blieb ein etwa fünfzehn Zentimeter breiter Rand.
Vorsichtig trat er an das Loch und leuchtete hinein. Der Boden lag gut zwei Meter unter ihm. Auf der etwa zwei Quadratmeter großen Fläche lag ein viereckiges Gestell aus rostigem Metall. Seine Größe entsprach exakt der des Loches und in gleichmäßigen Abständen ragten angespitzte Metallstangen etwa einen halben Meter in die Höhe. Das Konstrukt erinnerte ihn an Fallen, die er vor einigen Monaten in einer Fernsehreportage über den Vietnamkrieg gesehen hatte. Vietkong-Kämpfer hatten dort offene Fallgruben im Dschungel ausgehoben, auf deren Boden sich senkrecht aufgerichtete Bambusspitzen befanden und die nur darauf warteten, dass ein unachtsamer US-Soldat hineinstürzte.
Schockiert betrachtete Ronnie die Grube. Der Schein seiner Lampe erfasste etwas weißes, das zwischen den tödlichen Spitzen lag.
Knochen.
Menschenknochen, wie Ronnie aufgrund des daneben liegenden Schädels vermutete. Aber etwas anderes schockierte ihn noch vielmehr.
Es war eine Puppe, die direkt neben einer winzigen, skelettierten Hand lag. Sie trug ein rosafarbenes Kleid und blickte mit schwarzen Knopfaugen direkt in den Strahl von Ronnies Lampe. Ihr roter Mund schien zu einem stummen Schrei geöffnet und auf ihrer Wange klaffte ein großes Loch. Vermutlich hatte sich eine Maus oder irgendein anderes Ungeziefer in dem weichen Puppenschädel eingenistet.