„Unsinn. Das ist ein altes Haus, sonst nichts“, fuhr er sie an und begann, das Gebäude im Uhrzeigersinn zu umrunden. Vielleicht hatte er ja Glück und fand noch einen weiteren Eingang. Vielleicht einen, bei dem man sich nicht so viel Mühe gegeben hatte, ihn zu verschließen. Oder wenigstens einen, der von der Straße aus nicht zu sehen war, so dass er sich in Ruhe Zugang verschaffen konnte.
Der Park, den er während seines Erkundungsganges durchquerte, hatte beeindruckende Ausmaße. Zu seiner Linken erstreckte sich eine weitläufige Wiese, die als lang gezogene Uferzone eines riesigen Weihers auslief. Ein Gürtel aus dichtem Schilf zog sich rund um das Gewässer, das am gegenüberliegenden Ufer an einen Wald angrenzte. Er konnte nicht erkennen, wie weit das Grundstück in dieses Waldstück hineinreichte, aber er vermutete, dass sich der Zaun, dem er mit dem Wagen gefolgt war, einmal um das komplette Areal zog und sich folglich auch irgendwo durch diesen Wald schlängelte.
Ein perfekt abgeschirmter Ort.
Als er die Rückseite des Schlosses erreichte, überkam ihn ein dringendes Bedürfnis.
„Sorry Süße, aber ich muss mal pinkeln.“
„Typisch. Aber zum Glück bist du ja ein Kerl. Geh doch einfach da drüben in die Büsche.“
Adam grinste. Eine ausgezeichnete Idee.
Eine dichte Hecke zog sich die Schlossmauer entlang. Dorthin konnte er sich in Ruhe zurückziehen.
Während er so dastand und seine Blase in einem satten Strahl erleichterte, glaubte er, durch die Hecke hindurch etwas erkennen zu können.
„Brat mir doch einer ´nen Storch. Wenn das keine Tür ist, fress ich ´nen Besen.“
Er stopfte seinen Schwanz zurück in die Hose, wobei er sich vor lauter Aufregung über seine Entdeckung so beeilte, dass er seine Jeans besudelte.
Es war ihm egal.
Er musste unbedingt in Erfahrung bringen, was es mit seiner Entdeckung auf sich hatte.
Mit wenigen großen Schritten trat er aus der Hecke heraus und fand sich vor einer rostbraunen Metalltür wieder.
Ich hab´s doch gewusst. Bingo!
„Hey, was treibst du denn da so lange? Du solltest nicht stundenlang an deinem Ding rumspielen, sondern nur pinkeln. Oder hast du dich verlaufen?“
Er schmunzelte. Nachdem die Kleine anfangs noch etwas schüchtern gewesen war, war sie zunehmend aufmüpfiger geworden. Und obwohl er sich einerseits darüber ärgerte, musste er sich andererseits eingestehen, dass ihn das ziemlich antörnte.
„Warte! Ich bin gleich zurück. Ich habe nur gerade etwas entdeckt, das ich mir kurz ansehen möchte.“
Auf der verborgenen Tür, der sich Adam nun gegenüber sah, hatte irgendein Witzbold einen warnenden Spruch in gelber Neonfarbe hinterlassen:
HAU AB, HIER LAUERT DER TOD!
Oh, wie passend, ein schöneres Türschild hätte ich mir ja kaum selbst ausdenken können.
Zögernd griff er nach der massiven Klinke und drückte die Tür langsam nach innen. Mit einem - in seinen Ohren - unendlich lauten Quietschen, öffnete sie sich. Er trat in den hinter der Türöffnung liegenden Gang und lauschte in das Innere des Gebäudes.
Stille.
Und Dunkelheit.
Er löste eine Taschenlampe von seinem Gürtel und schaltete sie ein. Der Strahl wanderte über Wände aus dunklem Stein und verharrte schließlich auf einer steilen Treppe, deren Stufen vermutlich in den Keller des Schlosses hinabführten.
Sein Herz klopfte ihm vor Aufregung bis zum Hals, während er einen Schritt vor den nächsten setzte und die Treppe hinunter ging. Dann folgte er einem schmalen Gang. Im Licht seiner Lampe entdeckte er riesige Spinnweben, die er beiseite wischte, bevor er seinen Weg fortsetzte. Einmal huschte eine fette Ratte durch den Lichtkegel. Vermutlich war sie den Besuch derartiger Störenfriede nicht mehr gewohnt, denn so wie es hier unten aussah, war der alte Kellergang schon seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt worden.
Oh, wie er es liebte, in solchen Gebäuden auf Entdeckungstour zu gehen.
Es war wie auf dem Dachboden seiner Großeltern. Egal, wie oft man dort hinaufstieg – man wusste nie, was man fand.
Nach wenigen Metern endete der Gang vor drei Türen.
Die nach links und rechts abzweigenden Türen waren geschlossen. Er rüttelte an den massiv aussehenden Klinken, aber nichts tat sich. Die Holztüren waren abgeschlossen. Lediglich die Tür in der Mitte war augenscheinlich nur angelehnt. Nach kurzem Zögern öffnete er sie und ließ den Lichtstrahl durch den dahinter liegenden Raum gleiten.
Adam atmete die Kellerluft durch die Nase ein. Im Gegensatz zu der stickigen Gewitterschwüle, die dort oben seit zwei Tagen herrschte, war sie angenehm kühl, roch dafür aber feucht und muffig.
Hey, ein richtiger Gewölbekeller. Wie cool ist das denn?
Und in dem Augenblick, in dem der Strahl seiner Lampe über das massive Bruchsteinmauerwerk des fensterlosen Raumes glitt, war er endgültig davon überzeugt, das richtige Gebäude für sein Vorhaben gefunden zu haben.
Sie wird sich freuen, wenn ich ihr davon berichte. Endlich kommen wir aus dieser engen Hütte raus. Und unsere lästigen Nachbarn sind wir auch auf einen Schlag los. Vor allem diese alte Schachtel mit ihrem nervigen Köter.
Er frohlockte. Wenn alles nach Plan lief und er das Gebäude schnell für sie herrichten konnte, würde er sogar das Geld für das Rattengift für diese Misttöle sparen, die schon mehrfach in den Lichtschacht seines Kellerfensters gepisst hatte.
Adam überlegte einen Augenblick, einen Weg ins Obergeschoss zu suchen, um sich die übrigen Räume anzusehen, entschied sich aber dagegen.
Schließlich wartet da draußen jemand auf mich. Und außerdem kann ich mir den Rest des Gebäudes beim nächsten Mal ganz in Ruhe ansehen.
Er kehrte zurück in den Kellergang und folgte seinem Verlauf, bis er die steile Treppe erreichte. Wenige Augenblicke später fand er sich im Freien wieder. Noch immer war die Luft schwül und stickig. Lediglich vom nahe gelegenen Meer schien ein leichter Wind aufzuziehen. Sein Blick wanderte gen Himmel. Am Horizont türmten sich tiefschwarze Wolken auf. Vermutlich würde es in Kürze ein heftiges Sommergewitter geben.
„Hallo? Wo steckst du?“
Keine Antwort.
Noch einmal rief er nach ihr.
Wieder nichts.
Eilig schritt er durch die Hecke und folgte der Wand des Gebäudes. Er wollte es wenigstens einmal vollständig umrundet haben, bevor er zu seinem Wagen zurückkehrte.
Er befand sich bereits in dem parallel zur Straße verlaufenden Waldstück, als er eine weitere Entdeckung machte. Zwischen verwitternden Baumstümpfen und einem wahren Labyrinth aus abgebrochenen Zweigen, entdeckte er die Überreste einer Mauer.
Wenigstens schien es sich auf den ersten Blick um eine Mauer zu handeln.
Bei genauerem Hinsehen hingegen, entpuppte sich die seltsame Ansammlung von Steinen als etwas völlig anderes. Und wenn er mit seiner Vermutung richtig lag, handelte es sich bei seinem Fund um die Überreste eines alten Brunnens.
Wie spannend.
Als Jugendlicher hatte er einmal eine Geschichte gelesen, in der ebenfalls ein solcher Brunnen vorgekommen war. Zwar konnte er sich nicht mehr an den Titel erinnern, wusste aber noch grob, wovon sie gehandelt hatte. Ein Meteorit war auf die Erde gestürzt und hatte besagten Brunnen vergiftet. Als Folge der Vergiftung starben nicht nur die Tiere des Bauern, auf dessen Land der Brunnen gestanden hatte, sondern auch seine Familie. Und wenn er sich recht erinnerte, hatte der arme Kerl sich am Ende selbst umgebracht.
Adam liebte derartige Horrorgeschichten. Egal, was andere Menschen davon hielten, für ihn waren sie einfach das Größte.
Er stöberte zwischen den Stämmen und Zweigen herum und schob mit seinen Füßen Erde und Laub beiseite.