»Ihr habt euer Volk verlassen?«
Brad schüttelte den Kopf. »Nicht für immer. Wir gelobten unserem Vater, ihm bei einer... Aufgabe zu helfen. Wenn sie erfüllt ist, kehren wir nach Thbarg zurück.«
Skar verzichtete darauf, den Veden nach der Art dieser Aufgabe zu fragen. Hätte er darüber reden wollen, so hätte er es getan.
Brad stand mit einem Ruck auf. »Ich habe noch zu tun«, sagte er knapp. »Ruh dich aus. Du wirst deine Kraft später noch brauchen. Aber schlafe nicht ein.« Fast, als wäre ihm erst jetzt und nachträglich bewußt geworden, daß er zuviel und über die falschen Dinge geredet hatte, drehte er sich mit einer hastigen Bewegung um und ging. Skar hörte ihn irgendwo hinter sich hantieren, widerstand aber der Versuchung, sich umzudrehen und das Gespräch fortzusetzen. Er spürte, daß der Vede jetzt allein sein wollte, aber er fühlte auch, daß Brad ihm das alles nicht aus einer Laune heraus oder gar aus Schwatzhaftigkeit erzählt hatte, sondern mit seinen Worten einen bestimmten Zweck verfolgte.
Er zog die behelfsmäßige Decke enger um die Schultern, während Brad damit begann, die beiden Fellbündel vollends aufzuschnüren und ihren Inhalt rings um sich auf dem Eis zu verteilen. Skar fror noch immer, aber die Kälte war jetzt nur noch unangenehm, nicht mehr tödlich, und seine Körperwärme begann sie allmählich unter der Decke herauszujagen. Eine wohlige Müdigkeit ergriff von ihm Besitz. Er schlief nicht, aber sein Zustand kam Schlaf doch sehr nahe; eine Art Trance, in der alles um ihn herum unwichtig wurde und aus der er erst lange nach Dunkelwerden wieder erwachte. Sein Kopf dröhnte, als er unter dem Umhang hervorkroch und sich vorsichtig aufrichtete. Er fieberte. Seine Kehle fühlte sich ausgedörrt und trocken an, und sein Rücken brannte, als wäre er mit Säure verätzt worden. Sein Herz schlug schmerzhaft und hart, und er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.
Brads Warnung fiel ihm ein. Widerstrebend stand er auf, streifte die Decke ab und begann sich mit Schnee abzureiben. Hinterher fror er genauso erbärmlich wie in dem Moment, in dem Brad ihn aus dem Wasser gezogen hatte, aber die Ruhe sowie die wärmende Wirkung des Nashtan hatten seinem Körper viel von seiner Kraft zurückgegeben. Er bückte sich, schlüpfte in seine noch immer feuchten Kleider und hielt nach Brad Ausschau. Der Vede stand an der seewärtigen Kante der Eismauer, winzig klein und verloren vor der gewaltigen schimmernden Fläche aus Eis. Skar fiel eigentlich erst jetzt auf, wie riesig das weiße Plateau war, auf das sie hinaufgestiegen waren - mehr als fünfhundert Meter lang, die Länge des Kanals. Was sie bisher als Wand bezeichnet hatten, war eine gewaltige, von einem Jahrtausende geduldig heulenden Wind glattgeschliffene Ebene, mächtig genug, einer Festung als Fundament zu dienen. Skar streckte sich, bewegte prüfend Arme und Beine und ging langsam zu dem Veden hinüber. »Wo ist er?« fragte er.
Brad deutete wortlos auf einen mächtigen schwarzen Schatten, der lautlos unter ihnen vorbeiglitt.
»Er kreuzt seit mehr als zwei Stunden dort. Er hat die Falle erkannt.«
»Du meinst, er wird nicht in den Kanal einfahren?«
Brad schwieg einen Moment. Sein Gesicht wirkte im schwachen Sternenlicht der Nacht bleich, aber auch weicher. Die harten Linien waren verschwunden oder hatten sich zumindest für den Augenblick hinter grauen Schatten verborgen, und um seinen Mund lag ein nachdenklicher, beinahe schon wehmütiger Zug. »Doch«, sagte er plötzlich. »Er wird. Er zögert noch, aber er weiß, daß ihm keine Wahl bleibt. Wahrscheinlich suchen sie nach einer Möglichkeit, die Mauer zu ersteigen, um uns in den Rücken zu fallen. Sie werden keine finden.«
Skar sah nach oben. Die Nacht war ungewöhnlich klar - nicht eine einzige Wolke war am Himmel zu sehen. Der Sturm hatte sich gelegt, und die Luft war von einer Durchsichtigkeit, wie man sie nur sehr weit im Norden und selbst hier äußerst selten fand. Es war hell, sehr hell. Die schimmernde Pracht der Sterne überschüttete das Meer mit einer Kaskade von silbernem, schattenlosem Licht, so daß der Blick fast so weit reichte wie am Tage, auch wenn man nicht so viele Einzelheiten erkennen konnte. Es war, als schienen die Sterne heller als sonst, weil die Götter dem Kampf zusehen wollten, dachte Skar.
Verwundert über sich selbst, rettete er sich in ein verlegenes Lächeln. Was waren das für Gedanken? Seine? Die Gedanken eines Mannes, der die Existenz von Göttern und Dämonen bisher strikt geleugnet hatte? Er versuchte, sie zu vergessen und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem schwarzen Killersegler zu.
Brad würde wohl recht haben. Der Dronte konnte es sich einfach nicht leisten, eine langwierige Belagerung zu beginnen. Das Schiff war größer als die SHAROKAAN, aber im Gegensatz zu dem Freisegler war es kein Frachter, sondern ein Kaperschiff, wahrscheinlich randvoll gestopft mit Waffen und Kriegern. Kriegern, die essen und trinken wollten. Ihre Nahrung mußte bald knapp werden. Jedenfalls eher als die der Freisegler.
»Sie werden wissen, daß wir hier sind«, murmelte er.
Brad nickte. »Sie werden es sich zumindest denken. Ich würde es, wenn ich dort unten wäre. Aber es wird ihnen nichts nutzen.«
Skar verzichtete auf eine Antwort. Brads Worte waren von einer zwingenden Logik, und trotzdem überzeugten sie ihn nicht. Irgend etwas paßte nicht in das Bild, störte ihn. Aber er fand nicht heraus, was. Er versuchte, sich in den Kapitän des Dronte hineinzuversetzen. Er wußte nicht, was er an seiner Stelle tun würde, aber er wußte zumindest, was er nicht täte - nämlich offenen Auges in diese Falle rennen.
Aber hatte er überhaupt eine andere Wahl? Der Block aus Eis, in dem sie Zuflucht gesucht hatten, war gigantisch. Selbst von hier oben aus konnte er seine Grenzen nicht erkennen. Die senkrecht ins Meer stürzenden Wände aus Eis schienen sich meilenweit nach beiden Seiten zu erstrecken, ein endloser, sanft gekrümmter Bogen, dessen Konturen in unbestimmter Entfernung zu verschwimmen begannen, bis sie sich in Nichts auflösten und mit der Nacht verschmolzen. Er glaubte kaum mehr, daß es eine Insel war. Sie hatten die Küste eines neuen Kontinentes gefunden, einer neuen Welt. Wenn auch vielleicht einer Welt, die nur aus grimmiger Kälte und Eis bestand. Ein Land, ja, aber ein totes Land.
Skars Blick suchte wieder den mißgestalteten Rumpf des schwarzen Mordseglers. Trotz des hellen Sternenlichtes konnte er keine Einzelheiten erkennen. Es war, als verberge sich das Schiff hinter einem dunklen, wogenden Schleier, der dem Blick keinen sichtbaren Anhaltspunkt bot und trotzdem verhinderte, daß mehr als ein vager Gesamteindruck von Schwärze und Massigkeit erkennbar war. Trotz der Nähe blieb der Dronte ein plumper, häßlicher Schatten, der wie ein Bild aus einem bedrückenden Alptraum tief unter ihnen dahinzog; ein Schleier aus Nacht und Dunkelheit, der den Dronte wie eine dunkle Aura umgab. Und trotzdem sahen sie in diesem Augenblick wahrscheinlich mehr von dem Piraten als je ein Mensch vor ihnen. Jedenfalls mehr, schränkte er in Gedanken ein, als jeder, der eine Begegnung mit dem Dronte überlebt hatte, um davon zu berichten.
Skar hockte sich neben Brad auf den Boden. Die Hand des Veden lag auf dem Schwert, und auch Skars Finger glitten unbewußt zum Gürtel und legten sich um den lederbezogenen Griff des Tschekal. Die Berührung des kalten Metalls gab ihm Sicherheit; das Gefühl, etwas Bekanntes zu berühren, ein winziges Bindeglied zwischen dieser kalten, lebensfeindlichen Einöde und der Welt, aus der sie kamen. Die Nachtluft trug ein dumpfes Klatschen zu ihnen herauf, als der Dronte wendete. Der plumpe schwarze Rumpf schwenkte in einer überraschend schnellen Bewegung herum; das Schiff legte sich auf die Seite und brach schäumend durch die Wellen. Die schwarzen Segel blähten sich knatternd.
Brad bewegte sich unruhig. Obwohl er kleiner war als Skar, erhob sich seine Gestalt wie ein riesiger schwarzer Schatten neben ihm gegen den sternenklaren Nachthimmel, und Skar hatte plötzlich ein absurdes Gefühl von Geborgenheit, von Wärme, die er schon lange vermißt hatte. Brad erinnerte ihn an Del, obgleich sie sich so unähnlich waren, wie sich zwei Männer nur sein konnten; nicht an den Del, der unten auf der SHAROKAAN war und auf seine Rückkehr wartete, sondern an einen anderen Del, einen, den er irgendwo auf den tödlichen Ebenen von Tuan verloren hatte, und eine seltsame Wehmut ergriff von ihm Besitz. Sie waren wieder zusammen, seit Del die Sumpfleute siegreich gegen die rebellischen Errish geführt hatte, und niemand hätte den Unterschied bemerkt. Aber es gab einen Unterschied, und er schmerzte. Sie sprachen und lebten miteinander, aber wenn sie es taten, so taten sie es in der Art, in der Fremde miteinander redeten, mit den gleichen vertrauten Worten wie früher, den gleichen Gesten und Bewegungen, den gleichen Scherzen, der gleichen selbstverständlichen Vertrautheit - und doch gab es einen Abstand, eine Kluft zwischen ihnen. Es war, als hätte Vela damals mehr zerstört als nur ihre räumliche Verbundenheit. Er war nicht mehr dazu fähig, jene Art von Freundschaft für den ungestümen jungen Draufgänger zu empfinden wie früher. Sie waren wie Brüder gewesen, mehr noch, wie Vater und Sohn, aber so sehr Skar auch in seinem Inneren nach einem Rest dieses Empfindens suchte, er fand nichts.