Skar hob schützend den Arm vor das Gesicht und wich weiter zurück. Ein durchdringender schwefeliger Gestank lag in der Luft und nahm ihm den Atem. Der gesamte Berg schien zu vibrieren. Ein tiefer, stöhnender Laut drang an sein Ohr, ein Krachen und Bersten, als schrie die gesamte gewaltige Eismasse unter den Schmerzen, die ihr das Feuer zufügte.
Doch so gewaltig die Hitze auch war, das Eis siegte schließlich. Die Flammen wurden kleiner, verloren an Wut und Macht, wechselten von kalkigem Weiß zu schmutzigem Rot, das nach wenigen Augenblicken endgültig von den immer schneller nachstürzenden Schmelzwassern erstickt wurde. Nur der durchdringende Gestank ein warmer Hauch und das Knistern des Eises blieb.
»Danke«, brachte Brad mühsam hervor.
Skar fiel es schwer, die Worte des Veden überhaupt zu verstehen. In seinen Ohren hallte noch das Dröhnen der gewaltigen Detonation nach. Er stöhnte, fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und stocherte mit dem kleinen Finger im linken Ohr herum. Langsam ging er zu Brad hinüber. Das Gesicht des Veden war von Ruß verschmiert, und auf seiner nackten Brust bildete sich langsam eine gewaltige Brandblase. Sein Bart war angesengt.
»Du hast mir das Leben gerettet«, sagte Brad.
Skar winkte ab. »Das war ich dir schuldig. Wir sind quitt.«
Aber das stimmte nicht. Er wußte es, und Brad wußte es auch. Sie waren plötzlich mehr als zufällig zusammengekommene Kampfgefährten. Skar hätte bei jedem anderen genauso gehandelt, ebenso wie Brad sein Leben riskiert hätte, um jeden beliebigen Matrosen der SHAROKAAN aus der Eiswand zu befreien. Aber das, was zwischen ihnen geschehen war, das stückweise und behutsame Hinreißen der Mauer, die zwischen Brad und ihm stand, gab dem Geschehen einen völlig neuen Aspekt.
»Das galt uns«, sagte Skar, während er auf die noch immer brennende Klippe zeigte; rasch, beinahe verlegen und nur, um auf ein anderes Thema überzuleiten. »Uns persönlich, Brad. Sie müssen uns gesehen haben. Wir sollten uns irgendwo eine sichere Deckung suchen - ich glaube nicht, daß das der einzige Angriff auf uns war.«
Brad wollte etwas erwidern, aber ein peitschender Knall von jenseits der Eismauer verschluckte seine Worte. Hinter ihnen stieg ein weiterer Höllenfunke in die Höhe, löschte das Samtblau des Himmels und das Silber der Sterne mit Feuer und Glut aus und überzog das Firmament mit Feuer und die Klippe mit tanzenden roten Schatten. Skar duckte sich instinktiv, aber dieser zweite Schuß ging weit über sie hinweg und versank funkensprühend hinter dem jenseitigen Rand der Eisebene.
Brad fuhr zusammen. »Ihr Götter!« keuchte er. »Die SHAROKAAN!«
Für einen winzigen Moment flammten die Wände des Sees in schmerzhaftem Weiß auf, als der Eiskessel das Feuer des Geschosses reflektierte. Skar hatte den Eindruck, direkt am Rande eines ausbrechenden Vulkans zu stehen. Dann erlosch das Licht übergangslos. Ein dumpfer Schlag wehte zu ihnen herauf, ein Laut, als schlüge ein gigantischer Hammer auf einen noch gigantischeren Amboß, dann ertönte ein machtvolles Zischen, und eine ungeheure Dampfwolke verdunkelte den Himmel.
Skar wandte sich geblendet ab. »Du hast recht!« brüllte er über das Zischen und Brodeln der Dampfexplosion hinweg. »Er weiß, daß wir hier sind!«
Brad sagte etwas, das vom Peitschen eines dritten Schusses übertönt wurde, und begann ungehemmt in seiner Heimatsprache vor sich hin zu fluchen. Das Feuer hielt weiter an. Während der nächsten halben Stunde verwandelte sich die Eisinsel in ein Chaos aus flackerndem Licht, Hitze und infernalischem Lärm. Der Dronte schleuderte mehr als drei Dutzend Brandgeschosse über ihre Köpfe hinweg. Der See verschwand unter einer brodelnden, von grellen Blitzen durchzuckten Dampfwolke. Das Eis bebte, hob sich und stöhnte wie ein gewaltiges lebendes Wesen. Die Hitze ließ die Kanten der Eiswände abschmelzen und rund werden, und die Spritzer der brennenden Flüssigkeit, die wie weißglühende lodernde Regentropfen herabrieselten, verwandelten das Eis in eine bizarre Kraterlandschaft. Meterbreite Risse entstanden, Sprünge rannten wie kleine lebende Wesen in unberechenbaren Richtungen durch das Eis und spalteten die Kanalwände, klaffende Wunden, aus denen Wasser und Dampf statt Blut sprudelten und die gierig wie aufgerissene Mäuler nach Brad und Skar schnappten. Überall zischten kochende Dampfgeysire hoch.
Dann, genauso plötzlich, wie der Angriff begonnen hatte, hörte das Feuer auf. Der Himmel war wieder klar, und nur vom See her klang noch das Krachen berstenden Eises und das Zischen von kochendem Wasser zu ihnen herauf.
Brad und Skar näherten sich dem Kanal mit äußerster Vorsicht. Das geschundene Eis schien unter ihrem Gewicht aufzustöhnen. Der Boden vibrierte, dann zerriß ein peitschender Knall die wieder eingetretene Stille, und ein gewaltiges Stück der Kanalwand löste sich und polterte in einer lang anhaltenden Lawine aus Eis und halb geschmolzenem Matsch in den Graben.
Brad fluchte ungehemmt vor sich hin. Seine Hände ballten sich in hilfloser Wut zu Fäusten.
»Ich glaube, wir haben ihn unterschätzt«, sagte Skar.
Brad knurrte. »Wer hier wen unterschätzt hat, wird sich erst noch erweisen müssen, Satai«, sagte er gepreßt. Er tat einen weiteren Schritt, prüfte, ob das brüchig gewordene Eis sein Körpergewicht trug, und ließ sich dann auf Hände und Knie herab, um vorsichtig an den Graben heranzukriechen.
»Dieses kleine Schauspiel war vielleicht eindrucksvoll, aber nicht besonders sinnreich«, sagte er wütend. »Eine überflüssige Demonstration seiner Macht, mehr nicht.«
»Für uns vielleicht«, entgegnete Skar. »Für die Männer auf der SHAROKAAN muß es die Hölle gewesen sein.«
»Sie waren in Sicherheit«, widersprach Brad. »Das Schiff liegt im toten Winkel unter der Wand.«
Skar dachte für einen Moment an Gowenna, die an Land gegangen war, weil sie während des Kampfes nicht an Bord des Schiffes hatte bleiben wollen. Aber irgend etwas sagte ihm, daß ihr nichts geschehen war. Er war völlig sicher.
»Sie kommen.«
Skar sah, durch den plötzlichen Gedankensprung verwirrt, nach Westen, ließ sich ebenfalls auf Hände und Knie nieder und kroch behutsam neben den Veden. Das Eis vibrierte unter seinem Gewicht. Ein paar kleine Brocken lösten sich und stürzten lautlos in die Tiefe. Aber es hielt. Vor der Einfahrt des Kanals war ein gewaltiger schwarzer Schatten aufgetaucht; ein Stück faßbar gewordene Nacht, hinter der die Sterne verblaßten. Noch waren seine Segel gebläht, aber das würde sich ändern, wenn er vollends in den Kanal eingelaufen war. Sie hatten zwei, vielleicht sogar drei Stunden Zeit. Das Kaperschiff mochte eine größere Besatzung als die SHAROKAAN haben und sich vielleicht schneller als sie durch den Kanal staken können, aber auch sie würden Zeit brauchen. Viel mehr Zeit, als Brad und er nötig hatten.
Skar warf dem Veden einen fragenden Blick zu. »Hier?«
»Weiter zum See hin ist es günstiger.« Brad deutete mit einer Kopfbewegung auf das Ende des Kanals, hinter dem die SHAROKAAN auf der Lauer lag. »Vielleicht werden sie leichtsinnig, wenn sie unbehelligt so weit kommen«, murmelte er.
Skar schenkte dem näher kriechenden Schatten einen letzten, nachdenklichen Blick und schob sich dann langsam von der Kante zurück. Er hätte sich gewünscht, daß der Optimismus von Brads Worten mit dem in Einklang stand, was er selbst fühlte.
5.
Sie hatten gewartet; Stunden, die ihnen wie Ewigkeiten vorgekommen waren. Obwohl der Dronte wendiger und schneller war als die SHAROKAAN, kam er kaum besser voran als sie zuvor; anders als der Freisegler hatte er die Strömung gegen sich, und es kam ihnen vor, als wären die Stakgeräusche langsamer geworden in den letzten Minuten. Vielleicht verlangsamte er seine Fahrt aber auch absichtlich, um vorsichtiger in den See einzulaufen. Er mußte wissen, daß die SHAROKAAN irgendwo auf der Lauer lag und ihn erwartete. Skar versuchte, sich in die Männer des schwarzen Seglers hineinzuversetzen. Es war sicher kein gutes Gefühl, mit vollem Wissen in eine Falle zu laufen. Brad stand auf. »Es wird Zeit.« Er hob den Kopf und starrte einen Moment abwesend zu den Sternen empor. Für die Dauer von zwei, drei Herzschlägen wurde sein Antlitz von silbernem Licht beschienen, und Skar glaubte einen beinahe traurigen Ausdruck in seinen Augen zu gewahren. Aber dann bewegte er sich erneut, und sein Gesicht verlor sich wieder hinter einem Schleier aus anonymem Dunkel. Für den Bruchteil eines Lidzuckens hatte Skar den wirklichen Brad gesehen, das denkende und fühlende Wesen, das sich hinter der Maske einer gefühllosen Kampfmaschine verbarg. Seine Ruhe war nur gespielt. In Wirklichkeit, das spürte er, tobte in der Seele des Mannes ein wütender Kampf. Die bevorstehende Auseinandersetzung mit dem Piraten? Sicher nicht allein. Plötzlich bedauerte Skar, Brad nicht doch nach der Art des Gelöbnisses gefragt zu haben, das er und sein Bruder Rayan gegenüber abgelegt hatten. Er wußte nicht, warum, aber irgendwie glaubte er zu ahnen, daß es mit dem Dronte zusammenhing. Zusammenhängen mußte.