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»Der Dronte?«

Skar lehnte sich gegen den Mast und atmete tief ein. Zum ersten Mal seit Stunden spürte er die Kälte wieder. Sie und die Müdigkeit: eine schwere, bleierne Last, die ihn langsam zu Boden ziehen wollte. Er konnte jetzt nicht antworten. Weder jetzt noch später. Er wollte nicht einmal denken.

»Das Eis«, sagte er nach einer Weile. »Ein Teil der Kanalwand brach unter der Hitze zusammen. Er wurde in die Tiefe gerissen.«

Rayan nickte, ohne sich umzudrehen. »Ich wußte es«, murmelte er. »Ich wußte es, als ich dich das Seil herunterklettern sah.«

»Es... tut mir leid«, murmelte Skar.

Helth fuhr mit einem wütenden Schnauben herum. Seine Augen blitzten. »Es braucht dir nicht leid zu tun, Satai«, stieß er hervor. Allein die Art, in der er das Wort Satai aussprach, hätte ihm unter anderen Umständen und bei einem anderen das Leben kosten können. In seinem Mund kam das Wort einer Beschimpfung gleich, und Skar zweifelte nicht daran, daß es auch genauso gemeint war. Aber er spürte nicht einmal Ärger. Er verstand nur zu gut, was in dem jungen Veden vor sich ging. Es war der Schmerz über den Verlust des Bruders, der sich in Zorn auf ihn, den Überlebenden des Kampfes, entlud. Helth machte ihn für Brads Tod verantwortlich. Sie waren zwei gewesen, als sie hinaufstiegen, und er, Skar, war allein zurückgekommen. Es war nicht einmal nur der Umstand, daß Brad gefallen war. Veden standen mit dem Tod auf du und du, noch mehr als die Satai, und er hatte nichts Erschreckendes oder gar Furchteinflößendes für sie. Aber Skar hätte nicht überleben dürfen. Er hatte kein Recht dazu. Er hätte nicht überleben dürfen. Dadurch, daß er lebte und Brad gefallen war, hatte er seinen Tod - wenigstens in den Augen von Helth - entehrt. Wäre es umgekehrt gewesen, wären Helth und Del dort hinaufgestiegen statt ihm und Brad, und wäre nur Helth allein zurückgekommen, hätte er vielleicht das gleiche gefühlt.

»Wir brauchen kein Mitleid«, preßte Helth noch einmal hervor. »Brad ist im Kampf gestorben. Es war ein ehrenvoller Tod. Ein Tod, wie ihn sich jeder Vede wünscht.«

»Kampf?« Skar verzog abfällig die Lippen. »Von welchem Kampf sprichst du, Vede? Das, was wir dort oben getan haben, war kein Kampf. Wir haben den Dronte abgeschlachtet wie ein Stück Vieh, Helth. Und einen Tod wie diesen hätte sich niemand gewünscht. Auch dein Bruder nicht«, fügte er betont hinzu. Er sah, wie Helth unter jedem Wort wie unter einem Hieb zusammenfuhr, und er spürte, wie weh sie ihm taten. Aber er empfand plötzlich eine fast sadistische Freude dabei, das Messer noch tiefer in die Wunde zu stoßen und herumzudrehen, und er sprach erbarmungslos weiter. »Niemand wünscht sich den Tod, Junge. Weder einen solchen Tod noch einen anderen. Irgendwann wirst auch du das begreifen, wenn du lange genug lebst.«

Helth wollte auffahren, aber Rayan brachte ihn mit einem raschen Blick zum Schweigen.

»Hör auf, Skar«, sagte er leise. »Ich weiß, daß du recht hast, aber ich bitte dich zu schweigen.«

Skar gehorchte. Er wußte selbst nicht, was ihn dazu gebracht hatte, Helth die Wahrheit so brutal ins Gesicht zu schleudern. Vielleicht, weil er sich selbst schmutzig und besudelt vorkam. Weil es Erleichterung brachte, einen anderen zu schlagen, wenn man selbst Schmerzen litt. Er hielt Rayans Blick einen Herzschlag lang stand, drehte sich um und ging langsam zum Heck und zur Kabine hinunter.

Die Kajüte war leer. Die Kohlebecken an den Wänden waren heruntergebrannt und erloschen, und die Kälte hatte endgültig Einzug in das feuchte Holz der Wände gehalten. Skar blieb einen kurzen Moment lang in der Mitte des niedrigen, großen Raumes stehen und schlurfte dann zum Tisch. Er fühlte sich müde, aber irgendwie war ihm der Gedanke an Schlaf zuwider. Mit dem Schlaf würden die Träume kommen, und er fürchtete sich plötzlich davor zu träumen. Er setzte sich, bettete den Kopf auf die Arme und schloß die Augen. Aber er schlief nicht ein. Sein Körper schrie nach Ruhe, aber sein Geist revoltierte dagegen. Vor seinem inneren Auge tanzten Bilder: Flammen, Schreie, Brads vor Entsetzen entstelltes Gesicht, obwohl er es nicht gesehen hatte.

Hinter ihm erklangen Schritte, leise, zögernde Schritte. Er richtete sich auf, umklammerte mit den Händen die Tischkante, als müsse er sich daran festhalten, und drehte langsam den Kopf. Er war erschöpft, aber beinahe dankbar für die Störung. Er hätte es jetzt nicht ertragen, allein zu sein.

Es war Gowenna. Er hatte sie oben an Deck nicht gesehen und deshalb vermutet, daß Rayan sie noch nicht wieder auf sein Schiff genommen hatte. Aber die Nacht war lang genug gewesen.

»Du bist wieder zurück?« fragte er.

Sie nickte: »Wenn... wenn du willst, gehe ich wieder.«

Skar lächelte matt. »Bleib.«

Er lehnte sich zurück, starrte einen Moment lang an ihr vorbei gegen die Wand und schloß schließlich die Augen. Jetzt, da er nicht mehr allein war, konnte er seiner Müdigkeit nachgeben.

Er war froh, daß Gowenna nicht gekommen war, um mit ihm zu reden. Sie schien zu spüren, daß er weder allein sein noch reden wollte, und war nur da, um bei ihm zu sein, aus keinem anderen Grund als dem, einfach nur dazusein, ein Mensch, der neben ihm saß und ihm allein durch seine Gegenwart Trost spendete.

Früher, dachte er, hätte Del hier gesessen, und es wäre seine Nähe gewesen, die mir half.

Gowenna blieb einen Augenblick hinter ihm stehen, ging dann leise um den Tisch herum und ließ sich auf einen Schemel sinken. Er fühlte ihren Blick, obwohl er sie nicht ansah. Und er spürte, wie sich ihre Hand hob, zögerte, über den Tisch auf die seine zukroch, wieder zögerte, und dann scheu, fast ängstlich seine Finger berührte.

»Meinst du nicht, daß wir... daß wir eine Art Burgfrieden schließen sollten, bis das alles hier vorbei ist?« fragte sie.

Skar schwieg lange. »Haben wir denn Krieg?« fragte er schließlich. Gowenna antwortete nicht.

Auch nicht, als er seine Hand zurückzog.

7.

Die SHAROKAAN schwenkte in weitem Bogen herum. Die Männer hatten die Segel gerefft und statt dessen wieder die Ruder zu Wasser gelassen. Die Rahen des Schiffes stachen wie blattlose Äste eines bizarren Baumes in den dunstverhangenen Himmel, dürre schwarze Finger, die vergeblich versuchten, das schimmernde Grau hoch über ihnen anzukratzen. Der Segler bewegte sich nur widerwillig. Schiffe wie die SHAROKAAN waren nicht dazu konstruiert, sich auf diese Weise fortzubewegen, und die sanfte, aber beständige Strömung stemmte sich zusätzlich gegen das Schiff und zehrte den Schwung der Blätter wieder auf. Sie ruderten jetzt seit zehn Minuten, aber der Segler schien sich kaum von der Stelle bewegt zu haben.

Skar lehnte sich an die Reling und stützte die Ellbogen auf. Die lähmende Stille, die nach seiner Rückkehr von dem Schiff und der Mannschaft Besitz ergriffen hatte, war dem dumpfen, rhythmischen Klatschen der Ruder und den vielfältigen Geräuschen des langsam wieder erwachenden Schiffes gewichen: dem Knarren und Ächzen von feuchtem Holz, naß und verquollen trotz der fingerdicken Teerschicht, dem ständigen Flappen des Besansegels, das als einziges hochgezogen war, um den Ruderern zu helfen, das schwerfällige Boot auf Kurs zu halten, dem Singen von Tauwerk und Kabel. Es war, als seufzte das Schiff erleichtert, endlich von der erdrückenden Last des Eises befreit zu sein. Durch die Hitze, die das Wasser des Sees zum Kochen gebracht hatte, war auch der Eispanzer über der SHAROKAAN geschmolzen. Zum ersten Mal seit Tagen war das Schiff eisfrei. Der blausilberne Spiegel des Sees war wieder zerbrochen; die Ruhe durch die vielfältigen Geräusche des Schiffes und seiner Besatzung gestört. Vielleicht hatte hier - bevor sie kamen - ein Jahrtausend Schweigen und Stille geherrscht, aber mit der SHAROKAAN waren Hektik und Unruhe über den See hereingebrochen, menschliche Stimmen und Lachen; aber auch Krieg und Feuer und Tod.