Skar warf sich fluchend herum, kam auf Hände und Knie hoch und robbte keuchend zur Reling. Neben ihm schrie einer der Matrosen gellend auf, warf die Arme in die Luft und verschwand, als der Boden unter ihm aufriß. Sein Schrei brach ab, wurde von einem gräßlichen mahlenden Geräusch verschluckt. Der Schmerz in seinem Arm steigerte sich ins Unerträgliche.
Skar brach zusammen, drehte sich mühsam auf den Rücken und tastete mit zusammengebissenen Zähnen nach dem winzigen beißenden Splitter in seinem Arm. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen, aber er ignorierte ihn und riß das Geschoß heraus. Der Splitter war kaum länger als sein kleiner Finger, aber sein Arm schmerzte, als wäre er von einem Axthieb getroffen worden. Ein Tropfen schwarzer, ölig glänzender Flüssigkeit quoll aus der Wunde, gefolgt von einem Strom hellroten Blutes. Das Schiff zitterte erneut. Ein gellender Aufschrei zerschnitt die Luft, gefolgt von einem hellen, schlangenhaften Zischen und einem fürchterlichen Laut, der ihn an das Geräusch brechender Knochen erinnerte. Skar warf sich blind nach vorne, als er eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahrnahm. Seine Finger krallten sich um den verschmorten Rest der Reling. Mit einer verzweifelten Bewegung zog er seinen Körper über Bord. Da, wo er gerade noch gelegen hatte, bohrte sich etwas Riesiges, Dunkles und Schweres in das Deck. Der Aufprall ließ das gesamte Schiff erzittern.
Der Sturz in das eisige Wasser betäubte ihn fast. Mühsam kämpfte er sich an die Oberfläche, rang keuchend nach Atem und versuchte, den immer noch schlimmer werdenden Schmerz in seinem Arm zu ignorieren. Seine Hand war gelähmt und taub, ein nutzloser, verquollener Fleischklumpen, in dem keine anderen Gefühle als Schmerz und unerträgliche Qual waren. Er spürte, wie die Lähmung sein Handgelenk erreichte und unbarmherzig weiterkroch. Obwohl er erst wenige Sekunden im Wasser war, begann die Kälte bereits deutlich an seinen Kräften zu zehren. Er rang keuchend nach Luft, versuchte den Kopf über Wasser zu halten und schwamm, mit ungeschickten, ruckartigen Stößen und nur den rechten Arm und die Beine gebrauchend, auf das Boot zu, in dem Del und die beiden Matrosen hilflos den letzten Akt des Dramas verfolgten. Irgend etwas klatschte neben ihm ins Wasser und versank sprudelnd in der Tiefe.
Skar warf sich herum, schluckte Wasser und kam keuchend und würgend wieder an die Oberfläche, nur um eine halbe Sekunde später erneut wie von einer gewaltigen eisernen Faust in die Tiefe gezogen zu werden. Das Wasser rings um ihn herum schien zu kochen. Die Kälte biß wie flüssiges Feuer durch seine Haut, verwandelte seine Muskeln in verkrampfte, nutzlose Bündel und lähmte seine Lungen. Jemand griff nach seinem Arm - dem linken, schmerzenden Arm -, packte ihn und riß seinen fast leblosen Körper mit einem Ruck, der ihm fast das Schultergelenk auseinanderzureißen schien, an Bord der Pinasse. Seine Rippen schrammten über die niedrige Bordwand.
Er spürte den Schmerz kaum noch. Im Wasser war die Kälte grausam gewesen; hier war sie unerträglich. Skar hustete, erbrach Salzwasser und blutigen Schleim und ließ sich keuchend und würgend zwischen Dels Beinen zu Boden sinken. Die Kälte fiel über ihn her wie ein wütendes Tier, versengte seine Haut, stach und wühlte in seinen Eingeweiden und machte jeden Atemzug zur Höllenqual. Vor seinen Augen wogten blutgetränkte Nebelschleier.
»Bist du in Ordnung?« Del berührte seine Schulter, schlug ihm zweimal hintereinander mit der flachen Hand ins Gesicht und schüttelte ihn so lange, bis er die Augen öffnete. Das Boot zitterte. Eine eisige Welle schwappte über seinen Rand. Ein gellender, unmenschlicher Aufschrei zerschnitt die Luft. Ruder klatschten ins Wasser. Jemand schrie.
»Rayan!« stöhnte Del.
Skar stemmte sich mühsam hoch. Er zitterte. Seine Zähne schlugen klappernd aufeinander, und seine Haut schien am eisverkrusteten Holz des Bootes festzukleben. Er mußte all seine Willenskraft aufbieten, um sich vollends aufzusetzen.
Rayan, Helth und der zweite Matrose waren wie durch ein Wunder noch am Leben. Skar begriff plötzlich, daß seit seinem verzweifelten Sprung ins Wasser erst wenige Sekunden verstrichen waren, obwohl es ihm wie eine halbe Ewigkeit vorgekommen war.
Der Dronte schien alle Energie aufzubieten, um seiner Opfer doch noch habhaft zu werden. Irgend etwas Schwarzes, Formloses wuchs hinter den drei Männern auf und griff mit dünnen, peitschenden Tentakeln nach ihnen. Helth wirbelte herum. Das Schwert sprang wie von selbst in seine Hand, schnitt einen flirrenden Halbkreis in die Luft und zerbrach an schwarzglänzendem Horn. Der Vede taumelte zurück, strauchelte und fiel mit einem gellenden Aufschrei über Bord. Ein Hagel von winzigen Geschossen überschüttete die beiden anderen Männer als sie verzweifelt versuchten, ebenfalls zur Reling durchzubrechen. Der Matrose schrie auf, griff sich an die Brust und brach in die Knie. Roter, blasiger Schaum trat auf seine Lippen. Er ließ seine Waffe fallen, stemmte sich noch einmal hoch und taumelte, blind vor Schmerz und Angst, auf die Reling zu.
Del keuchte, als er die Gefahr erkannte. »Paß auf!«
Seine Warnung kam zu spät. Der Hauptmast zuckte. Rayan schrie auf, wurde wie eine Stoffpuppe durch die Luft geschleudert und versank in brodelndem Wasser. Eine rasche, wellenförmige Bewegung lief über das Deck des Dronte. Die Rahe senkte sich wie ein absurder dürrer Finger herab, schlug mit einer spielerisch anmutenden Bewegung nach dem flüchtenden Matrosen und schnippte ihm den Kopf von den Schultern. Der verstümmelte Torso taumelte noch zwei, drei Schritte weiter und brach wie vom Blitz getroffen zusammen.
Skar schloß entsetzt die Augen. Eine Übelkeit stieg in ihm empor, die nicht allein auf die Verletzungen und die Schwäche zurückzuführen war. Das Boot bebte, als die beiden Matrosen in die Ruder griffen und verzweifelt auf das zuckende Wrack des Dronte zupaddelten. Rayan trieb wenige Fuß vor ihnen im Meer, das sich in seiner unmittelbaren Umgebung hellrosa zu färben begann. Del beugte sich hinab, bekam den Gürtel des Freiseglers zu fassen und zerrte ihn mit einer gewaltigen Kraftanstrengung an Bord.
Skars Übelkeit wurde noch schlimmer, als er sah, wie schwer der Freisegler verletzt war. Sein rechter Arm war dicht unter dem Ellbogengelenk abgetrennt, und quer über Schädel und Gesicht zog sich eine klaffende, bis auf den Knochen reichende Wunde. Seltsamerweise bluteten die Wunden kaum.
Das Boot schaukelte heftig und füllte sich knöcheltief mit Wasser, als Helth auf der anderen Seite an Bord kroch. Einer der Matrosen wollte ihm helfen, aber der Vede schlug seine Hand wütend beiseite. Sein schwarzer Umhang war zerfetzt und blutig, und auf seinem Gesicht spiegelten sich Erschöpfung und Furcht, aber auch noch etwas anderes, nämlich Haß und starres, eingefrorenes Grauen. Ein Haß, der Skar an den Ausdruck erinnerte, den er auf Rayans Zügen bemerkt hatte, bevor sie an Bord des Dronte gegangen waren.
Rayan stöhnte leise, während Del sich einen Moment ungeschickt an seinem Gürtel zu schaffen machte und ihn dann kurzerhand entzweiriß, um seinen Armstumpf damit abzubinden. Eine Hilfeleistung, die ebenso schmerzhaft wie sinnlos war, dachte Skar. Sie zögerten das Ende nur hinaus, vermutlich um nicht mehr als Minuten. Es wäre barmherziger, Rayan verbluten zu lassen.
Die gespaltenen Lippen des Freiseglers zuckten. Ein gurgelnder, furchtbarer Laut entrang sich seiner Brust, vermischt mit schnellen, abgerissenen Worten in einer unverständlichen Sprache.
Die Pinasse wendete, und der Dronte fiel rasch hinter ihnen zurück. Schon nach wenigen Augenblicken war das Ungeheuer zu einem formlosen Schatten zusammengeschrumpft, der schließlich ganz hinter treibenden Nebelschwaden verschwand. Aber etwas von ihm schien sie zu begleiten, ein stummer, drohender, unsichtbarer Schatten, ein Stück der körperlosen Furcht, die der Dronte ausatmete. Etwas von seinem Haß auf alles Lebende, Fühlende.