»Er ist tot«, sagte Gowenna.
Skar nickte. Rayan war tot, aber es war ein Tod, um den Skar den Freisegler fast beneidete, trotz all der Qualen, mit denen er verbunden gewesen war. Wenigstens hatte er etwas mit hinüber in das dunkle, schweigende Reich jenseits des Styx nehmen können. Etwas, das wohl die wenigsten auf diesem Fluß ohne Wiederkehr bei sich hatten: Hoffnung.
Er stand auf und winkte einen Matrosen herbei. »Bringt ihn fort. Und behandelt ihn vorsichtig. Er war ein tapferer Mann.«
Ein paar der Seeleute machten sich daran, seinen Befehl zu befolgen, während die anderen stumm dastanden und abwechselnd Skar und den Veden ansahen.
Skar spürte plötzlich die Spannung, die zwischen ihm und Helth bestand. Die ganze Mannschaft war hier auf dem Vorderdeck zusammengekommen. Sie alle hatten die letzten Worte ihres Kapitäns vernommen, und es war wohl nicht einer unter ihnen, der nicht wußte, welcher Schrecken in der treibenden Nebelwand dort vorne auf sie lauerte. Auf allen Gesichtern waren die gleichen Empfindungen geschrieben: Angst, Hoffnungslosigkeit und Schrecken; da und dort Verzweiflung. Keine Hoffnung mehr. Mit Rayan war mehr gestorben als ihr Kapitän.
Skar begann sich mit jeder Sekunde unwohler zu fühlen. Der Freisegler hatte ihm die Verantwortung für ein halbes Hundert Menschenleben aufgebürdet. Eine Verantwortung, die er weder tragen konnte noch wollte. Und da war noch Helth. Rayans Sohn und Erbe. Auch wenn ihn die Besatzung offensichtlich nicht besonders mochte, so war er immer noch Rayans Sohn und bekannter als Skar, der fremde, von allen halbwegs gefürchtete, halbwegs wohl auch bewunderte, aber von keinem geliebte Satai.
»Ihr habt gehört, was Rayan gesagt hat«, sagte er laut. »Ich bin euer neuer Kapitän, bis wir einen Hafen erreicht haben. Erkennt ihr mich an?«
Sein Blick glitt über die Reihe stummer Gesichter und bohrte sich schließlich in den des Veden. Helth blieb stumm; sein Gesicht eine starre, undurchdringliche Maske.
»Erkennt ihr mich an?« fragte er noch einmal.
»Sie werden dich nie anerkennen«, sagte Helth leise. »Nicht dich, Satai. Aber Rayans Letzten Willen. Du bist der Kommandant.«
»Und du Rayans Sohn«, gab Skar ebenso leise zurück. »Ich will keinen Streit mit dir, Helth.«
Der Vede lachte leise. »Ich beuge mich Rayans Wunsch. Er wußte, was er tat. Und ich beneide dich nicht um deine Aufgabe, Satai. Wahrhaftig nicht.« Er starrte Skar noch einen Herzschlag lang durchdringend an, wandte sich dann mit einem Ruck um und ging steifbeinig zum Heck. Skar sah ihm nach, bis er unter Deck verschwunden war. Er straffte sich. Helth' Worte hatten die letzten Hindernisse beseitigt. Er spürte, daß die Besatzung ihm gehorchen würde, ob er nun ein Fremder war oder nicht.
»Gut«, sagte er mit erhobener Stimme. »Ihr alle habt es gehört. Wendet das Schiff. Wir fahren zurück zum Eisstrand.«
9.
Gowenna löste mit spitzen Fingern den blutdurchtränkten Verband von Skars Arm, schüttelte den Kopf und tunkte den Stoffetzen mehrmals hintereinander in eine Schale mit Wasser. »Ich habe schon Wunden behandelt, die besser aussahen«, murmelte sie.
Skar verdrehte den Hals und bewegte die Schulter, um die Wunde besser sehen zu können. Der Bizeps war geschwollen und rot und blau angelaufen, der Muskel verkrampft und schmerzend, und die Haut glänzte fiebrig. Trotzdem war es nicht mehr so schlimm wie zu Anfang. Wenigstens konnte er die Hand wieder bewegen, wenn auch nicht gut. Ein Schwert würde er in den nächsten Tagen kaum damit führen können.
»Du hast Glück gehabt, weißt du das?« fragte Gowenna, während sie den Verband wieder anlegte und prüfend mit den Fingerspitzen über Skars Haut fuhr. »So ein Ding ins Gesicht oder in den Hals...« Sie lächelte flüchtig, ließ sich zurücksinken und legte die Hände in den Schoß. Ihr Harnisch schrammte hörbar über das gefrorene Holz des Mastes. Es dämmerte. Die Sonne war bereits hinter der Krone der turmhohen Eismauer verschwunden, und die länger werdenden Schatten tasteten wie substanzlose Finger einer bizarren schwarzen Hand über den See. Rings um den flachen Eisstrand, an dem die SHAROKAAN angelegt hatte, schien noch die Sonne; ein winziger halbkreisförmiger Bereich goldener Helligkeit, von allen Seiten durch näher kriechende Schatten und Nacht bedrängt. Der Anblick erschien Skar von einer fast aufdringlichen Symbolik. Aber Symbole halfen weder ihm noch der Besatzung weiter. Was sie brauchten, war ein praktischer Vorschlag.
»Woran denkst du?« fragte Gowenna.
Skar lächelte. »Vielleicht an nichts. Wie kommst du darauf, daß ich denke?«
Gowennas Lächeln wurde um eine Spur spöttischer. »Man sieht es, großer weiser Meister«, sagte sie sarkastisch. »Außerdem höre ich deine Gedanken knirschen. Suchst du nach einer rettenden Idee?« Skar nickte. Gowennas offenkundiger Spott war ganz und gar unberechtigt, aber verständlich. Eine Art Galgenhumor, der ihr helfen mochte, mit der Situation fertig zu werden. So wie Helth in stummes Brüten verfallen war, Del in verbissenes Nachdenken und ein Großteil der Mannschaft seine Angst mit hektischer Arbeit betäubte, war es bei Gowenna Sarkasmus, in den sie Zuflucht suchte. Er paßte nicht zu ihr, aber die Frau, die ihm gegenübersaß, hatte ohnehin kaum noch viel mit der Gowenna gemein, die er vor fünf Monaten in Cosh verlassen hatte. Durch Velas Verrat war mehr in ihr zerstört worden, als ihm bisher klargeworden war. Sie hatte mehr verloren als ihr Vertrauen und ihre Schönheit. Sie hatte sich selbst verloren. Ihr scheinbar irrationales Verhalten war nichts als ein verzweifelter Versuch, eine neue Identität zu finden. Sie war zeit ihres Lebens immer in Rollen geschlüpft. Selbst zum Schluß, als sie gegen die Errish kämpfte, hatte sie nichts als eine Rolle gespielt: die der Rächerin. Jetzt konnte sie das nicht mehr. Er dachte daran, was sie einmal über Vela gesagt hatte - daß sie nichts als ein Spiel spielte, ein gewaltiges, böses Spiel mit höchstem Einsatz, und in gewissem Sinne stimmte das noch immer. Aber jetzt war es ein Spiel, dessen Regeln ihr nicht vertraut waren, jetzt mußte sie mit einer Situation fertig werden, auf die sie nicht vorbereitet war und die in keine der Schablonen, nach denen sie bisher gelebt hatte, hineinpaßte. Vielleicht, dachte er, war nicht einmal ihr Haß echt. Vielleicht war es nur die einzige Reaktion, die ihr denkbar schien.
Er stand auf, reckte sich - vorsichtig, damit der frisch angelegte Verband nicht verrutschte - und trat an die Reling. Der weit geschwungene Eisstrand reflektierte das Sonnenlicht so stark, daß er blinzeln mußte. Er stützte sich mit den Unterarmen ab, verschränkte die Hände und beugte den Oberkörper leicht vor, so daß er in einer halb nachdenklichen, halb an einen Betenden erinnernden Haltung an der Reling stand. Der Wind ließ ihn frösteln. Aber solange er fror, dachte er in einer Anlehnung an Gowennas Sarkasmus, lebte er wenigstens noch.
Er sah auf, als sie neben ihn trat und sich in ungeschickter Nachahmung seiner eigenen Haltung auf die Reling sinken ließ.
»Sie arbeiten wie die Besessenen«, sagte sie nach einer Weile. Skar nickte stumm und betrachtete die doppelte Reihe kleiner, ameisengleicher Gestalten, die sich wie eine dunkel gepunktete Linie vom Strand zu der gezackten Öffnung hoch oben im Eis bewegte. Eine schwankende Planke spannte sich vom Deck der SHAROKAAN zum Strand. Das Wasser war zu seicht, als daß sie bis unmittelbar an den Eisstrand hätten heranfahren können; sie hatten die SHAROKAAN so weit ans Ufer heranmanövriert, bis der Rumpf unter Wasser knirschend gegen Eis geschrammt war, aber es verblieb ein gut fünf Meter breiter Streifen tödlich kalten Wassers, über das sie diese Planke gelegt hatten - ein kaum armdickes Stück Holz, das sich unter jedem Tritt wie ein nicht straff genug gespanntes Seil durchbog und wieder hochfederte, so daß das Darübergehen der Männer zu einem absurden Tanz wurde. Es erschien Skar fast wie ein Wunder, daß noch keiner der schwerbeladenen Matrosen auf dem spiegelblanken Stück Holz ausgeglitten und ins eisige Wasser gestürzt war. Aber die Männer bewegten sich so sicher auf dem schwankenden Steg, als hätten sie massiven Fels unter den Füßen. Das Entladen dauerte nun schon fast drei Stunden; trotzdem waren die Laderäume der SHAROKAAN noch lange nicht leer. Sie schafften nur einen kleinen Teil der Ladung an Land, aber es würde noch bis weit in den nächsten Morgen hinein dauern, ehe sie fertig waren.