»Wie lange braucht ihr noch?« fragte Skar.
Helth deutete auf den kleiner werdenden Stapel mit Lebensmitteln vor sich. Trotz der Mengen, die die Männer von Bord trugen, schienen sie sich gemäß Skars Anweisungen auf das unbedingt Nötige zu beschränken. Aber auch das Allernotwendigste war viel bei einem halben Hundert Menschen.
»Nicht mehr lange«, sagte der Vede. »Waffen, Brennholz und Kleider sind bereits oben in der Höhle. Es fehlen nur noch die Lebensmittel - drei, vielleicht vier Stunden. Bei Sonnenaufgang ist das Schiff soweit leer, daß wir es verlassen können, wie du befohlen hast.« Skar überlegte einen Moment, ob er auf den vorwurfsvollen Klang in Helth' Stimme reagieren sollte oder nicht. Er hätte es übergehen können - aber das hieße, die Auseinandersetzung zu verschieben. »Ich verstehe deine Gefühle, Helth«, sagte er. »Ich verstehe und respektiere sie. Aber du mußt auch mich verstehen. Dein Vater hat mir eine schwere Last übergeben. Ich versuche nur, seinen Letzten Willen zu befolgen.«
Helth lachte leise, aber es klang fast wie ein Schluchzen, das er im letzten Moment unterdrücken und in ein Lachen umwandeln wollte, was ihm aber nicht ganz gelang. »Du verstehst mich«, sagte er bitter. »O ja, ich bin sicher, daß du mich verstehst, Satai. Es ist ja auch so einfach.«
»Das ist es gewiß nicht, Helth«, antwortete Skar. »Und ich bin hier, um mit dir darüber zu reden.«
»Reden?« Helth zog die Augenbrauen zusammen. Ein Schatten huschte über sein Gesicht, vielleicht ein Reflex der Fackeln, die überall an den Wänden aufgehängt waren, vielleicht auch etwas anderes. »Es gibt nichts zu reden, Satai. Du bist der Kommandant. Ich gehorche dir.«
»Ich will dieses Kommando nicht«, sagte Skar. »Du kannst es haben. Sag mir einen anderen Weg, das Leben der Männer zu retten, und ich wähle ihn. Egal, wie schwer er ist.«
»Darum geht es dir?« Helth starrte unverwandt an ihm vorbei. Seine Stimme klang tonlos, beinahe, als rede er mit sich selbst oder mit jemandem, der unsichtbar hinter Skar stand. »Nein - es gibt sicher keinen anderen Weg, ihr Leben zu retten. Aber Leben allein«, fuhr er nach einer sekundenlangen Pause fort, »ist nicht alles. Sie mögen überleben, dort oben. Vielleicht ein paar Tage, vielleicht eine Woche oder zwei. Vielleicht gelingt dir sogar das Unmögliche und du findest einen Weg zurück. Aber es ist kein Leben mehr für sie, Skar. Nicht ohne die SHAROKAAN.«
»Für sie - oder für dich?«
Für einen Moment durchbrach Zorn den Ausdruck der Starre auf Helth' Zügen. »Was ich empfinde, das zählt nicht«, sagte er. »Dieses Schiff gehört weder mir, noch ist es meine Heimat. Selbst, wenn wir überleben, werde ich nicht bei ihnen bleiben, sondern nach Thbarg zurückkehren, um -«
»Der Tod deines Vaters und deines Bruders scheint dich nicht sonderlich zu beeindrucken«, unterbrach ihn Skar. Helth' gespielte Ruhe machte ihn allmählich rasend.
Der junge Vede schwieg einen Moment. Skars Angriff war unfair gewesen; er war aus einer Richtung gekommen, aus der er ihn nicht erwartet hatte. Skar spürte deutlich, daß seine Selbstsicherheit erschüttert war. Aber er empfand keine Freude über diesen kleinen Sieg. Wieder spürte er diese Müdigkeit; Müdigkeit zu kämpfen, sich immer wieder gegen ein Schicksal zu wehren, gegen das er letztlich machtlos war. Allmählich begann Helth - sein Verhältnis zu Helth - so zu werden, wie es zwischen ihm und Gowenna war. Bei allen Göttern, dachte er - er hatte lange genug gebraucht, um mit Gowenna eine Art Burgfrieden zu schließen. Er konnte keine Zweitausgabe desselben Streites gebrauchen.
»Beeindrucken?« murmelte Helth nach einer Weile. »Nicht mehr als dich, Skar. Sie starben im Kampf, und auch, wenn du es nicht einsehen willst, es war ein ehrenvoller Tod.«
Skar hätte ihn gerne nach dem Unterschied zwischen einem ehrenvollen und einem unehrenhaften Tod gefragt, aber er sah ein, daß er damit nichts erreichen würde. Helth war einfach noch zu jung, um zu begreifen, daß es keinen ehrenhaften Tod gab. Nicht einmal für einen Veden. Es gab nur den Tod, und er war schmutzig und gemein und voller Blut und Schmerzen, und sonst nichts.
»Gut«, fuhr er mit veränderter Stimme fort. »Deine Gefühle gehen mich nichts an, und ich bin auch nicht hier, um mit dir darüber zu streiten.«
»Sondern?«
»Was verstehst du von Seefahrt und Karten?«
Helth zuckte mit den Achseln. »Nicht viel mehr als du - warum?«
»Ich möchte wissen, wo wir sind«, antwortete Skar.
»Wenn es nicht einmal Rayan wußte, woher soll ich es wissen?« gab Helth zurück. »Wir sind weiter im Norden als jemals ein Schiff vor uns. Vielleicht ist es nicht einmal Land - vielleicht ist nur das Meer gefroren. Kalt genug ist es ja. Unter den Matrosen sind ein paar, die die Position anhand der Sterne zu ermitteln vermögen - aber was soll dir das nutzen? Es gibt keine Karten von diesem Teil der Welt.«
»Ich weiß, aber...« Skar sprach den Satz nicht zu Ende. Er begann sich zu fragen, wozu er überhaupt hier heruntergekommen war; vielleicht, um sich selbst zu beruhigen. Sein Gewissen. Sie hatten nur die Wahl, hierzubleiben und zu sterben - oder das Schiff aufzugeben und einen Marsch ins Ungewisse anzutreten. Es gab nicht nur keine Karten über diesen Teil der Welt - bisher hatten sie nicht einmal gewußt, daß er überhaupt existierte. Was erwartete er zu finden?
»Führ mich zu einem dieser Männer«, bat er halblaut.
10.
Es war reiner Zufall, daß sie diese Höhle gefunden hatten. Vom See her war der Eingang beinahe unsichtbar; nicht mehr als ein länglicher, gezackter Schatten, eine Kerbe im Eis, vielleicht vom Wind oder einer Laune der Natur geschaffen. Als der Dronte das Feuer auf den See eröffnet hatte, waren Gowenna, Vela und die Männer, die sie begleitet hatten, in panischer Furcht den Eishang hinauf gelaufen; auf der Suche nach einer Spalte oder einem Eisüberhang, irgend etwas, das sie vor den Geschossen des Dronte, die wie brennende Sterne vom Himmel regneten und das Eis zum Verdampfen und den See zum Kochen brachten, schützen konnte. Sie hatten die Höhle gefunden; keinen Fluchtweg, aber eine natürliche Festung, in der sie selbst vor der Gewalt seines Höllenfeuers sicher sein würden.
Skar senkte den Kopf, um nicht gegen die niedrige Kante zu stoßen. Der Eingang war nicht mehr als ein schmaler Spalt, kaum mannshoch und so eng, daß er seitwärts gehen mußte, um überhaupt hindurchzukommen. Von der Decke hingen spitze, glitzernde Eisdolche, und der Boden war mit einem Netzwerk von Sprüngen und Rissen durchzogen, wo das Eis - selbst hier oben noch - unter dem Angriff des Dronte geborsten war. Die Hitze seiner Brandgeschosse allein hätte nicht ausgereicht, eine solche Verheerung anzurichten. Trotz allem war der Dronte nicht mehr als ein Zwerg gegen die gigantische weiße Pracht der Eislandschaft, und die Wunden, die er ihr zufügen konnte, waren nicht viel mehr als Nadelstiche. Aber die Hitze hatte das Eis zum Schmelzen gebracht und das vielleicht in Jahrmillionen gewachsene Gleichgewicht des weißen Giganten gestört. Das Eis war geborsten; in gewaltige, tonnenschwere Blöcke zerfallen, die durch ihr eigenes Gewicht aufeinander liegenblieben. Und der Feuerorkan, mit dem der Dronte den See überzog, hatte selbst hier oben seine Spuren hinterlassen; das Eis wirkte milchig und war von großen, nebeligen Schleiern durchzogen, und die Decke war auf der ganzen Länge des Ganges gerissen und hielt nur noch durch den Druck ihres eigenen Gewichtes. Skar betrachtete den Riß mit gemischten Gefühlen. Das Eis über seinem Kopf war mehr als zehn Meter stark; eine Decke, massiver als die zyklopischen Mauern Elays. Und trotzdem hatte bereits ein flüchtiger Hauch der Brandgeschosse des Dronte gereicht, sie reißen zu lassen. Er war plötzlich gar nicht mehr so überzeugt, daß sie hier oben wirklich sicher waren, wenn der schwarze Mörder zu neuem Leben erwachte und das Feuer auf den Berg eröffnete. Aber es war das beste, was sie hatten. Oben auf dem Eis waren sie vollkommen schutzlos. Er seufzte, fuhr mit den Fingerspitzen über das Eis der Wand, als könne er so seine Festigkeit prüfen, und ging schließlich weiter.