»Herr?«
Skar bemerkte erst jetzt, daß ihn der Mann bereits zum dritten oder vierten Mal ansprach. Er fuhr sich müde mit der Hand über die Augen, unterdrückte ein Gähnen und wandte sich dem Matrosen zu. Sein Blick war verschleiert; das Gesicht des Mannes schien immer wieder mit den unsicheren Schemen im Inneren der Höhle zu verschmelzen, und seine Stimme hatte einen seltsamen, verzerrten Nachhall. Offenbar war er doch noch nicht vollkommen wach.
»Ja?«
»Helth schickt nach Euch«, sagte der Freisegler. Seine Stimme zitterte, aber Skar vermochte nicht zu sagen, ob vor Kälte oder aus einem anderen Grund. Das war auch etwas, was er klären mußte: Die Männer hatten trotz allem noch immer Angst vor ihm, und es war eine Angst, die nicht allein damit zu begründen war, daß er Satai war. Die Freisegler waren ja an die Gesellschaft der beiden Veden gewöhnt. Ein Mann, der ein Meister der Schwertkunst war, konnte also für sie nichts Erschreckendes haben.
»Er braucht Euch unten auf der SHAROKAAN.«
Skar wollte nach dem Grund fragen, beließ es aber dann bei einem wortlosen Nicken, stemmte sich langsam und ächzend wie ein alter Mann hoch und folgte dem Mann zum Ausgang. Die Besatzung hatte noch mehr Kisten und Fässer hinaufgeschafft, während er geschlafen hatte, und die Eishöhle schien bis auf den letzten verfügbaren Meter vollgestopft zu sein. Der See aus Schmelzwasser war größer geworden, wie Skar mit einem besorgten Blick feststellte, und die Hitze der Fackeln hatte bereits tiefe, nach oben spitz auslaufende Höhlungen in die Eiswände gebrannt. Del und Vela schliefen ein Stück abseits der anderen, eng aneinandergeschmiegt, um der Kälte wenigstens notdürftig zu trotzen und sich gegenseitig zu wärmen. Er ging vorsichtig und bemühte sich, kein unnötiges Geräusch zu machen, um die Männer nicht zu wecken. Sie lagen zum Teil da, als wären sie vor Erschöpfung zusammengebrochen und an Ort und Stelle eingeschlafen. Sie brauchten die wenigen Stunden Schlaf, die er ihnen gönnen konnte. Skar hatte sich an den Gedanken, jetzt Kommandant dieser Männer zu sein, noch immer nicht gewöhnt. Er war schon Führer größerer Gruppen gewesen, ganzer Heere, aber das war etwas anderes. Diese Männer würden ihm gehorchen bis in den Tod, und trotzdem war zwischen ihnen eine unüberbrückbare Kluft.
Kalter Wind schlug ihm entgegen, als er die Höhle verließ. Aber wenigstens hatte sich der Nebel verzogen. Skar zog fröstelnd den Mantel enger um die Schultern zusammen, trat einen Moment auf der Stelle und sah zur Kanaleinfahrt hinüber. Im blassen Sternenlicht wirkte der Einschnitt wie eine klaffende Wunde im schimmernden Weiß der Wand.
Als er weitergehen wollte, kamen ihm drei dunkle Gestalten entgegen, bucklige Schatten, die sich beim Näherkommen in Matrosen verwandelten, gebeugt und wankend unter der Last der Bündel, die sie sich aufgeladen hatten.
Die Sonne war bereits seit einiger Zeit untergegangen, aber über dem Meer und dem Eissee lag noch ein grauer Schimmer von Licht, den die hereinbrechende Nacht noch nicht vertrieben hatte, und unten auf der SHAROKAAN brannten unzählige Fackeln, so daß das Schiff wie eine flammende Insel aus Licht und Wärme am Ufer des Sees lag. Aber der Wind war kälter geworden, und es schien eine ganz sonderbare Art von Kälte zu sein, gegen die ihn seine wärmende Kleidung nicht zu schützen vermochte; nicht sonderlich intensiv, aber durchdringend.
Er blieb einen Moment lang stehen, zog den Umhang noch enger um die Schultern und rieb die Hände gegeneinander. Dann folgte er dem Matrosen den abschüssigen Hang zum Strand hinab.
Er brauchte lange, um die wenigen Dutzend Schritte zurückzulegen. Das Eis hatte durch das ständige Hin- und Herlaufen der Matrosen viel von seiner Glätte verloren, aber der Hang war noch immer gefährlich, und ein einziger falscher Schritt konnte einen Sturz ins Wasser und damit den Tod bedeuten. Er zitterte vor Kälte, als er die schmale Laufplanke der SHAROKAAN hinaufging.
Helth erwartete ihn am Bug. Der Vede wirkte erschöpft; unter seinen Augen lagen dunkle Ringe, und seine Bewegungen waren fahriger geworden. Er trug noch immer den gleichen Umhang, aber er hatte sein Haar gesäubert, und an seinen Händen klebte kein Blut mehr. »Was gibt es?« fragte Skar anstelle einer Begrüßung. Er gab sich keine Mühe, seine Stimme freundlich klingen zu lassen. Wie immer, wenn er zu früh und zu abrupt aus dem Schlaf gerissen wurde, war er übler Laune, und er hatte keine Lust, sich zu verstellen.
Helth blickte weiter starr zum Eiskanal hinüber. »Hast du mit Kehlher gesprochen?« fragte er.
Skar nickte. Kehlher war einer der vier Männer aus der Besatzung, die sich darauf verstanden, ihre Position anhand der Sterne zu bestimmen. Aber das Gespräch mit ihm war erfolglos verlaufen. Wie sich dabei herausstellte, hatten er und die anderen schon mehr als nur einmal ihre Position ermittelt, seit sie von dem Dronte von ihrem ursprünglichen Kurs gejagt wurden. Das Problem war nicht die Ermittlung des genauen Standorts. Kehlher hatte ihm auf fünfzehn Seemeilen genau sagen können, wie weit und in welcher Richtung sie von der Küste Elays entfernt waren. Aber wo sie tatsächlich waren, wußte niemand. Kein Schiff war jemals so weit wie die SHAROKAAN nach Norden gesegelt; und wenn, so war es nicht zurückgekehrt.
Helth wartete eine Weile vergeblich auf eine Antwort und deutete schließlich zum Eiskanal hinüber. Skar konnte nicht mehr als wogende Schatten und undeutliche, sich ständig verändernde Umrisse erkennen, die zum Großteil wohl nur seiner Phantasie entsprangen, und jedesmal, wenn er dort hinüberblickte, beschlich ihn erneut ein seltsam bekanntes Gefühl der Furcht, einer Furcht, die nicht allein auf die Anwesenheit des Dronte zurückzuführen war.
»Irgend etwas geht dort vor«, flüsterte Helth. Er sprach so leise, daß Skar Mühe hatte, seine Worte über dem Wimmern des Sturmes zu verstehen. »Ich weiß nicht, was, aber irgend etwas geschieht dort. Man... hört Geräusche.«
Skar lauschte sekundenlang, aber er vernahm nichts außer dem winselnden, auf- und abschwellenden Heulen des Windes.
»Ich höre nichts«, sagte er.
Helth nickte. »Im Augenblick ist es auch nicht. Aber es kommt wieder, verlaß dich darauf.«
Skar sah den jungen Veden fragend an. »Hast du mich deshalb rufen lassen?«
Helth schwieg einen Moment. Der Schatten von Freundlichkeit, der auf seinen Zügen gelegen hatte, verschwand. »Natürlich nicht«, fuhr er mit veränderter Stimme fort. »Ich wollte dir mitteilen, daß wir fertig sind. Was jetzt noch an Bord ist, kann zurückbleiben.«
Skar versuchte vergeblich, einen Unterton von Tadel oder Vorwurf in Helth' Stimme zu hören. Das einzige, was er spürte, war Erschöpfung, allenfalls noch eine Spur von Resignation. Was Helth ihm hatte sagen wollen, hatte er ihm gesagt. Er würde es nicht noch einmal tun. »Gut«, sagte er. »Dann sollten wir alle hinaufgehen und uns gründlich ausschlafen. Die Männer brauchen Ruhe. Und du auch.«
»Und morgen brechen wir auf?«
Skar zögerte sichtlich, ehe er nickte. Helth wußte so gut wie alle anderen, daß sie bei Sonnenaufgang losmarschieren würden. Wenn er trotzdem fragte, dann, um mit dieser Frage auf den eigentlichen Grund dieses Gespräches hinzuarbeiten. »Ja. Bei Sonnenaufgang. Wir gehen an der Küste entlang nach Osten. Auf diese Weise haben wir am ehesten eine, wenn auch geringe Chance, auf Land zu stoßen.« Helth nickte. »Hoffentlich«, murmelte er. »Immer vorausgesetzt, dieser Eisklotz ist nicht Teil einer Insel, sondern ein ans Eismeer reichender Ausläufer eines neuen, unentdeckten Kontinents. - Aber ich habe dich nicht deshalb gerufen, sondern um dir etwas zu zeigen. Komm.« Er fuhr mit einer übertrieben heftigen Bewegung herum und ging an Skar vorbei zum Heck des Schiffes. Skar folgte ihm neugierig. Die Pinasse war wieder zu Wasser gelassen worden. Aber sie war diesmal nicht mit Männern beladen, sondern mit Fässern; Dutzenden von bauchigen, von schweren Eisenringen zusammengehaltenen Fässern, die mit einem Netzwerk von Tauen und Stricken gesichert waren. Ein scharfer, stechender Geruch schlug Skar entgegen, als er sich über die Reling beugte, und er sah, daß das Boot knöcheltief mit einer öligen Flüssigkeit gefüllt war.