»Was bedeutet das?« fragte er. Der Tonfall seiner Worte ließ keinen Zweifel daran, daß er - ganz gleich, was Helth vorhatte - dagegen sein würde, aber der junge Vede ging nicht darauf ein.
»In zwei Stunden setzt die Ebbe ein«, sagte Helth. »Das Wasser fließt dann aus dem See ab und strömt durch den Kanal nach draußen ins offene Meer.«
»Ich weiß«, nickte Skar ungeduldig. »Und?«
Helth deutet auf das Tau, das die Pinasse mit der SHAROKAAN verband. »Wir brauchen sie nur der Flut zu übergeben, und sie wird in den Kanal gesogen«, sagte er. »Die Fässer enthalten Öl. Das gleiche Öl, mit dem ihr den Dronte angegriffen habt, Brad und du.«
Skar begann zu begreifen, was der Vede wollte. Er selbst hatte für kurze Zeit mit dem gleichen Gedanken gespielt, ihn aber rasch wieder verworfen. Aber Helth gab ihm keine Gelegenheit, irgendwelche Einwände vorzubringen.
»Ein geschickter Bogenschütze kann einen Pfeil von hier bis zum Kanal schießen«, fuhr er fort.
»Einen brennenden Pfeil«, vermutete Skar.
Helth nickte. Es war zu dunkel, als daß Skar den Ausdruck auf seinem Gesicht hätte erkennen können, aber als er weitersprach, hatte seine Stimme viel von ihrer Ruhe verloren.
»Du bist es mir schuldig, Skar. Mein Vater übergab dir das Kommando über die SHAROKAAN, und ich will mich jetzt nicht mit dir darüber streiten, ob es richtig war oder falsch. Es war sein letzter Wunsch, und ich respektiere ihn. Aber er darf nicht umsonst gestorben sein. Er nicht und Brad nicht. Ich will diese Bestie haben, Skar.« Skar wollte auffahren, besann sich aber im letzten Augenblick anders. »Wir haben es schon einmal versucht, Helth«, antwortete er. »Du weißt, daß es sinnlos ist. Dein Vater hat diesen Versuch mit dem Leben bezahlt, Helth. Aber wir konnten dieses Ungeheuer nicht töten.«
Helth wischte seinen Einwand mit einer wütenden Armbewegung beiseite. »Du bist es mir schuldig«, wiederholte er stur. »Und wenn schon nicht mir, so Rayan und Brad. Mit dem, was sich dort auf dem Boot befindet, kann ich die halbe Insel in die Luft sprengen.«
»Und genau das wirst du tun, Helth«, unterbrach ihn Skar ruhig. »Die halbe Insel und uns dazu. Es nutzt uns nichts, wenn wir den Dronte vernichten und dabei selbst sterben.«
»Es wird für dieses verdammte Ungeheuer reichen!« fuhr Helth wütend fort, als hätte er Skars Worte gar nicht gehört.
Skar schüttelte sanft den Kopf. »Du hast nicht gesehen, was ich gesehen haben, Helth«, murmelte er. »Der Dronte ist ein Wesen, dessen Element das Feuer ist. Du kannst ihn nicht mit Feuer töten.«
Helth lachte rauh. »Ich wußte, daß du das vorbringen würdest, Satai«, zischte er. »Aber ich werde es trotzdem tun, ob mit oder ohne deine Erlaubnis.«
»Ich kann dich nicht daran hindern, Helth«, antwortete Skar gelassen. »Aber du wirst damit nichts erreichen. Ich will dieses Monster ebenso gerne tot sehen wie du, aber...«
»Gerede«, unterbrach ihn Helth. »Du und diese Gowenna, ihr steht euch in nichts nach. Reden, das könnt ihr...«
»Ich kann auch noch etwas anderes«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Skar drehte sich halb um und erkannte Gowenna. Sie war herangekommen, ohne daß er es bemerkt hatte. »Ich kann dich übers Knie legen und dir den Hintern versohlen, Junge. Vielleicht ist es das, was du nötig hast.«
Skar hielt unwillkürlich den Atem an. Helth' Hand zuckte zum Gürtel. Seine Gestalt straffte sich.
Aber der gefährliche Moment ging vorüber, ohne daß Helth die Waffe zog. Er war Gowenna überlegen in diesem Moment. Sie war unbewaffnet und erschöpft, und er hätte sie töten können, wahrscheinlich so schnell, daß nicht einmal Skar in der Lage war, es zu verhindern, und sie wußten es beide. Aber sie wußten auch beide, daß der Kampf zwischen ihnen nicht mit Waffen ausgetragen werden würde. Nicht jetzt. Nicht so. Trotz allem würde Helth niemals einen Gegner angreifen, der in einem - seiner Meinung nach - unfairen Nachteil war. Es wäre kein Sieg; nicht für ihn. Gerade ihre Unterlegenheit schützte Gowenna. Und machte Helth um so wütender.
»Das einzige, was du erreichen wirst, Helth«, fuhr Gowenna fort, »ist, dieses Biest weiter zu reizen. Du hast erlebt, wozu es fähig ist. Ich möchte nicht in der Nähe sein, wenn es wirklich wütend wird.« Helth' Augen funkelten. »Was kann es uns schon antun«, entgegnete er trotzig. »Es wird die SHAROKAAN so oder so vernichten. Und wenn den Dronte das Feuer nicht zerstört, so bringt es vielleicht den Kanal zum Einsturz und hält ihn fest, wo er ist. Oder hast du Angst, daß er uns aufs Eis nachkriecht?« fügte er höhnisch hinzu. Gowenna antwortete nicht. Helth' Worte waren nur mehr bloße Verteidigung, eine Geste, mit der er seinen Rückzug deckte, um nicht das Gesicht zu verlieren. Gowenna mußte das wissen, aber zu Skars Verwunderung verzichtete sie darauf, das Messer noch tiefer in die Wunde zu stoßen. Sie schüttelte nur den Kopf, bedachte Helth mit einem beinahe mitleidigen Blick und ging zum Heck des Schiffes zurück.
»Sie hat recht, Helth«, meinte Skar sanft. »Wir -«
Er brach ab, als er bemerkte, daß der junge Vede nicht mehr zuhörte. Noch einmal setzte er dazu an, etwas zu sagen, schüttelte aber dann nur den Kopf und wandte sich resigniert um.
Gowenna stand auf dem erhöhten Achterdeck und blickte über den See. Skar konnte nur ihre verbrannte Gesichtshälfte sehen; das blinde Auge funkelte wie ein winziger Kristall in dem dunkleren Narbengewebe, und in den zerstörten Zügen schien ein Ausdruck unsäglichen Schmerzes eingebrannt zu sein; ein Schmerz, der weit über bloße körperliche Qual hinausging. Ihre Haltung wirkte entspannt, beinahe gelöst, und trotzdem lag etwas darin, das Skar sagte, wie es in ihrem Inneren aussah.
»Du mußt ihn verstehen«, murmelte er. »Es war zuviel für ihn.« Gowenna drehte langsam den Kopf. »Das ist kein Grund, uns von diesem jungen Narren umbringen zu lassen«, stellte sie ruhig fest. »Wie würdest du reagieren, wenn du Vater und Bruder an einem einzigen Tag verlierst?« gab Skar zurück. »Er mag den Mantel eines Veden tragen, aber ein Stück bunter Stoff und eine Waffe machen aus einem Kind noch keinen Mann.«
»Sag ihm das«, schnappte Gowenna. »Oder noch besser, prügele es ihm in den Dickschädel hinein. Das scheint die einzige Sprache zu sein, die er versteht.«
Skar lächelte traurig. »Er weiß es, Gowenna. Aber gib ihm eine Chance.«
Gowenna antwortete nicht darauf. Sie sah ihn einen Moment lang durchdringend an, drehte sich dann wieder um und starrte zum gegenüberliegenden Ufer hinüber. Ein leiser, stöhnender Laut drang durch die wogenden Nebel zu ihnen herüber, ein Geräusch, als rege sich dort hinten irgend etwas Mächtiges, Gewaltiges. Der Laut, von dem ihm Helth erzählt hatte. Skar fror plötzlich stärker. Ein Fetzen seines Traumes fiel ihm wieder ein, und er war auf einmal sicher, daß es mehr als ein normaler Alptraum gewesen war. Er überlegte, ob er Gowenna davon erzählen sollte, ließ es aber dann.
»Wir sollten gleich heute aufbrechen«, sagte Gowenna unvermittelt. »Je größer die Entfernung ist, die ich zwischen mich und dieses... Ding bringe, desto wohler fühle ich mich.«
»Wir haben Zeit«, widersprach Skar. »Und die Männer brauchen eine Pause. Wer weiß, wie lange sie marschieren müssen.«
»Zwei Tage, vielleicht drei.«
Skar wandte überrascht den Kopf. »Wie kommst du darauf?« Gowenna deutete nach Osten. »Ich war dort oben«, antwortete sie, »auf der Eismauer. Vorhin, als du geschlafen hast. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, es gibt ein Gebirge im Osten. Man sieht es nicht, aber das Licht der Sonne spiegelt sich auf seinen Gipfeln, kurz bevor sie versinkt.«