»Das würde es«, antwortete Skar. »Für mich. Ich habe geschworen, Vela lebend zum Berg der Götter zu bringen, und ich werde meinen Schwur halten. Aber ich möchte einen Menschen dorthin bringen, Gowenna, keine leere Hülle, deren Geist ausgebrannt ist.«
»Ihr wird nichts geschehen«, antwortete Gowenna. »Das Mittel -«
»Sie stirbt«, unterbrach sie Skar. »Ich war bei ihr, vor nicht einmal einer Stunde. Sie siecht unter unseren Händen dahin. Und das Kind mit ihr.«
Gowenna starrte ihn an. »Ist es das?« fragte sie ungläubig. »Fürchtest du um das Leben deines Kindes?« Sie lachte bitter. »Du solltest dich lieber vor dem Tag fürchten, an dem es geboren wird, Satai.«
»Lenk nicht ab«, knurrte Skar. »Ich -«
»Ich lenke keineswegs ab«, fiel ihm Gowenna ins Wort. Plötzlich klang ihre Stimme hart und schneidend. »Ich befolge die Anordnung der Ehrwürdigen Mutter. Du weißt, daß ich sie nicht quäle, weil es mir Spaß macht. Hast du schon vergessen, wozu diese Frau fähig ist? Hast du vergessen, was sie dir angetan hat ? Dir und mir und zahllosen anderen? Sie hätte die Welt in Brand gesetzt, wenn wir sie nicht daran gehindert hätten, Skar.«
Plötzlich war er des Streitens müde. Er fühlte, daß er einer ernstgemeinten Auseinandersetzung mit Gowenna nicht gewachsen sein würde. Sie hatte schon immer besser mit Worten umgehen können als er. »Sie ist geschlagen, Gowenna«, sagte er matt. »Begreif das doch. Sie hat den Kampf ihres Lebens gekämpft und verloren. Sie stellt keine Gefahr mehr dar. Weder für dich noch für mich, noch für irgendeinen. Sie ist geschlagen.«
»Nein, Skar«, antwortete Gowenna ernst. »Das ist sie nicht. Sie wird gefährlich bleiben, solange sie lebt. In diesem Punkt ist sie dir und mir ähnlich. Du kannst sie schlagen, aber du kannst sie nie wirklich besiegen.«
Skar seufzte. Es war sinnlos. Gowenna war verblendet, verrannt in ihren Haß, so stark, daß sie rationalen Argumenten nicht mehr zugänglich war.
»Dann verbiete ich es dir«, sagte er leise.
Gowenna fuhr auf. »Das kannst du nicht. Die Ehr -«
»Elay ist weit«, unterbrach sie Skar. »Wenn wir hier lebend herauskommen und den Berg der Götter erreichen sollten, bin ich bereit, die Verantwortung für mein Tun zu übernehmen, Gowenna. Aber jetzt verbiete ich dir, dich ihr auch nur zu nähern. Von jetzt an werden nur noch Del und ich uns um sie kümmern, kein anderer.«
Gowenna setzte zu einer scharfen Entgegnung an, überlegte es sich im letzten Augenblick anders und senkte den Blick. »Ich gehorche«, flüsterte sie kaum vernehmbar. »Aber du wirst diese Entscheidung bereuen, Skar. Ich bete, daß ich mich irre, aber du wirst sie bereuen. Bald sogar.«
»Das mag sein.« Skar zuckte mit den Achseln, lehnte sich auf das hartgefrorene Holz der Reling und blickte zur Eismauer hinauf. »Aber auch darüber reden wir später«, fügte er nach einer Weile hinzu. »Bist du müde?«
»Müde? Nein.«
»Dann zeig mir deine Berge«, murmelte Skar. »Vielleicht sind sie wirklich da. Und vielleicht haben wir doch noch eine Chance.«
»Hier«, sagte Gowenna. »Nimm meine Hand.«
Skar löste behutsam die Rechte von dem gezackten Vorsprung, an dem er Halt gesucht hatte, griff nach Gowennas hilfreich ausgestreckten Fingern und zog sich mit einer raschen Bewegung in die Höhe. Der Wind traf ihn mit unbarmherziger Wucht, als er auf die spiegelglatte Krone der Eismauer hinaufstieg. Er machte rasch ein paar Schritte, um aus der unmittelbaren Nähe der Kante zu kommen, zog den Fellumhang enger um die Schultern und sah Gowenna fragend an. »Dort.« Gowenna deutete nach Osten. Skar sah neugierig in die angegebene Richtung, konnte aber zuerst nichts außer Dunkelheit und dem glitzernden Band der Sterne hoch oben am Himmel erkennen. Sein Herz hämmerte, und seine Fingerspitzen schienen taub zu sein, schmerzten aber trotzdem. Der Aufstieg war unerwartet anstrengend gewesen, die spiegelglatten Wände gaben ihren Händen und Füßen so gut wie keinen Halt, und sie hatten - obwohl es kaum fünfzehn Meter gewesen waren, die sie überwinden mußten - beinahe eine halbe Stunde gebraucht, um die Eismauer zu ersteigen. Aber er bestand darauf, selbst hier heraufzukommen, um sich das Gebirge, von dem Gowenna gesprochen hatte, anzusehen.
»Ich kann nichts erkennen«, murmelte er.
Gowenna schüttelte verärgert den Kopf. »Es ist direkt vor uns«, sagte sie ungeduldig. »Vielleicht zwanzig Meilen, kaum mehr.« Skar starrte angestrengt in die angegebene Richtung. Er sah nichts. Das Eis schien das schwache Sternenlicht wie ein gewaltiger Schwamm aufzusaugen, und alles, was weiter als zwei, drei Meilen entfernt war, war hinter einem Vorhang aus Schatten verborgen. »Achte auf den Horizont«, wies ihn Gowenna an. »Fällt dir nicht auf, wie unregelmäßig er scheint? Das müssen Berge sein.« Aus ihrer Stimme klang Verzweiflung, die bange Angst, daß Skar ihr sagen könnte, daß sie sich täuschte, daß diese Berge nur in ihrer Einbildung da waren, weil sie sie sehen wollte.
Aber sie hatte wohl recht. Als Skar länger hinsah, bemerkte er, daß der Horizont nicht so glatt war, wie er hätte sein müssen. Das schimmernde Band der Sterne verschwand entlang einer gezackten, unregelmäßigen Linie, unter der schwarze Finsternis herrschte.
»Siehst du es?« fragte Gowenna noch einmal.
Diesmal nickte Skar. »Ich sehe es«, murmelte er, ohne den Blick vom Horizont zu wenden. »Aber ich kann deinen Optimismus nicht teilen, Gowenna. Wer sagt dir, daß hinter diesen Bergen etwas anderes ist als diesseits? Wenn es überhaupt Berge sind.«
»Niemand«, erwiderte Gowenna trotzig, den letzten Teil seiner Antwort bewußt ignorierend. »Aber hast du eine bessere Idee? Selbst wenn uns der Dronte nicht angreift, erfrieren oder verhungern wir in ein paar Wochen, wahrscheinlich eher. Da greife ich lieber nach dieser Chance, und sei sie noch so gering.«
»Natürlich«, seufzte Skar. »Es war auch nur...« Er brach ab, senkte den Blick und rang sich ein halbherziges Lächeln ab. Gowenna berührte ihn am Arm und legte den Kopf auf die Seite.
»Du mißtraust mir noch immer.«
»Tue ich das?«
Gowenna nickte. »Ja. Und ich kann es dir nicht einmal verübeln. Ich habe dich ein paarmal zu oft belogen, um noch Vertrauen von dir verlangen zu können, glaube ich. Ich kann dich nur bitten, mir zu glauben.«
»Was zu glauben?« fragte Skar. »Daß du nichts weißt? Daß du mit deiner Kunst am Ende bist, so wie ich und alle anderen?« Er schüttelte den Kopf, streifte ihre Hand ab und deutete auf den still daliegenden See hinunter. Von hier oben aus betrachtet wirkte er wie ein gigantischer schwarzer Spiegel, in dem sich das Licht der Sterne brach. Vielleicht wäre es für Skar jetzt an der Zeit gewesen, irgendein versöhnliches Wort zu sprechen, aber ihm stand der Sinn nicht nach großmütigen Gesten; im Gegenteil. Alles, was er fühlte, war eine immer tiefer werdende Verzweiflung.
»Angenommen«, fuhr er nach einer Weile des Schweigens fort, »wir überqueren diese Berge und finden auf der anderen Seite nichts als noch mehr Eis und Schnee - was dann?«
»Hast du Angst vor dem Tod, Satai?«
Skar nickte ungerührt. »Du nicht? Ich kalkuliere ihn ein, bei allem, was ich tue, aber das bedeutet nicht, daß ich ihn nicht fürchte. Vor allem dann, wenn er sinnlos ist.« Er seufzte, verbarg die Hände unter seinem Fellumhang und trat nach kurzem Zögern vom Abgrund zurück.
»Ich bin gespannt«, fuhr er in verändertem Tonfall fort, »was Helth sagen wird, wenn ich ihm mitteile, daß er seinen ganzen Kram hier heraufschaffen muß.«
»Das muß er nicht«, erwiderte Gowenna. »Es gibt eine Stelle weiter hinten in der Höhle, wo die Decke so dünn ist, daß das Licht hindurchscheint. Wir können sie durchbrechen und von dort aus hier heraufkommen.«
»Du hast alles genau geplant, wie?« fragte Skar, ohne aufzublicken. »Sicher. Ich hatte nicht vor, in diesem Eisloch zu überwintern, weißt du?«