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»Du hast mich überhaupt nicht gerufen«, erwiderte Helth kalt. »Du hast mich rufen lassen.«

»Warum sprichst du überhaupt noch mit ihm?« fragte Del. »Er ist ein Narr und wird es bleiben.«

Helth' Augen blitzten belustigt. »Vielleicht bin ich das«, sagte er gleichmütig. »Man muß schon ein verdammter Narr sein, um euch freiwillig in diese Hölle zu folgen. Wir hätten auf der SHAROKAAN bleiben und mit ihr untergehen sollen, wie es sich für freie Männer gehört.«

»Vielleicht hätte dir Gowenna auch die Tracht Prügel verabreichen sollen, die du verdienst«, bemerkte Del. Skar unterdrückte ein zustimmendes Nicken. Obwohl er sich vorgenommen hatte, ruhig zu bleiben, brachten ihn die Worte des Veden schon wieder in Rage. »Gut«, sagte er mit einem resignierenden Seufzen. »Ich habe dich rufen lassen, um dir die Krieger dort drüben zu zeigen. Ich dachte, du würdest begreifen, was ihr Auftauchen bedeutet.«

»Und was wäre das?«

»Daß ein Sinn dahintersteckt«, erklärte Skar mit einer Geduld, die ihn schon beinahe selbst erstaunte. Und in ihm, leise und wispernd, aber unüberhörbar, fügte eine Stimme hinzu: Und daß du diesen Sinn ganz genau kennst, Skar. »Glaubst du wirklich noch, Helth, daß alles nur ein Zufall war?« fügte er laut hinzu. »Daß uns der Pirat aus reiner Willkür in diese Falle gejagt hat? Keiner von uns wäre noch am Leben, wenn es in seiner Absicht gelegen hätte, uns umzubringen. Er wollte uns hier. Genau hier, wo wir sind.«

Helth sah verwirrt zwischen ihm, Gowenna und Del hin und her, und Gowenna war diplomatisch genug, in diesem Moment zu schweigen. Sie wirkte ein ganz kleines bißchen angespannt, beherrschte sich aber.

»Selbst wenn es so wäre...«, begann Helth unsicher, sprach aber nicht weiter, sondern drehte sich wieder um und starrte aus zusammengekniffenen Augen nach Westen. Diesmal, da war Skar sicher, zeigte der Ausdruck auf seinen Zügen Furcht. Vielleicht war er einfach zu erschöpft gewesen, um es gleich zu begreifen.

»Es ist so, Helth. Wer immer uns diese Bestien auf den Hals gehetzt hat, verfolgt einen ganz bestimmten Zweck damit. Und bis jetzt hat er ihn erreicht.«

»Mit deiner Hilfe, ja«, sagte Helth. Aber seine Stimme zitterte, und von seiner bisherigen Selbstsicherheit war nicht viel geblieben.

»Unsinn«, schnappte Skar. »Vielleicht war es ein Fehler, das Schiff aufzugeben, aber deine Lösung war mindestens genauso falsch. Es hätte niemandem genutzt, wenn wir alle auf dem Schiff verbrannt wären.«

»Aber es nutzt uns, hier zu erfrieren.«

Wieder zögerte Skar sekundenlang zu antworten. Seine Zunge stieß wie ein kleines lebendes Wesen gegen die Zähne, als müsse er jedes einzelne Wort, das er aussprach, genau überlegen und abwägen. Er war nie ein großer Redner gewesen, aber es war ihm auch noch nie so schwergefallen wie jetzt, die richtigen Worte zu finden.

»Wir werden nicht sterben«, sagte er. »Wenn wir das Gebirge erreichen, haben wir eine Chance.«

In Dels Augen stand plötzlich ein fragender Ausdruck. Skar schüttelte unmerklich den Kopf. Del schwieg.

Helth lachte bitter. »Eine Chance!« wiederholte er mit einer Betonung, als hätte Skar einen besonders geschmacklosen Scherz gemacht. »Sei kein Narr, Skar. Ihr Satai legt so großen Wert auf eure Überlegenheit und euren scharfen Geist. Dann gestehe es auch ein, daß du verloren hast.«

»Muß ich dich wirklich an deinen Treueeid erinnern?« fragte Del. Helth fuhr herum. »Ich habe Rayan Treue geschworen, Del.«, zischte er. »Meinem Vater.«

»Und er hat deinen Eid auf mich übertragen«, ergänzte Skar ungerührt. »Ich habe ihm geschworen, so viele von euch zu retten, wie ich kann, und ich werde dieses Versprechen halten, Helth. Ich weiß, daß ich dich enttäuscht habe«, fuhr er hastig fort, als Helth auffahren wollte. »Dich und deine Männer. Ihr habt euer Schicksal in meine Hand gelegt, und es sieht so aus, als hätte ich versagt. Euer Schiff ist verbrannt, und viele deiner Kameraden sind tot. Es werden noch mehr sterben, bis wir die Berge erreicht haben. Aber die, die es bis dorthin schaffen, Helth, werde ich retten. Ich werde es wenigstens versuchen.«

»Sicher«, sagte Helth bissig. Seine Augen funkelten, und seine Haltung wirkte mit einem Male angespannt - aber auf sonderbar falsche Art, fand Skar. Er sah aus wie ein Mann, der Schmerzen ausstand. Starke Schmerzen. »Du wirst einen Zauberspruch aufsagen und ihnen zeigen, wie man über das Wasser wandelt.«

»Ich werde auf jeden Fall verhindern, daß sie aufgeben und sterben. Vielleicht habe ich in deinen Augen kein Recht mehr, irgend etwas von euch zu fordern, aber ich tue es trotzdem. Für euch. Um Rayans Vermächtnis zu erfüllen, Helth. Ich habe deinem Vater mein Wort als Satai gegeben, und ich werde es halten.« Es war gelogen. Er wußte, daß er es nicht konnte und daß er Helth und seine Männer, wenn überhaupt irgendwohin, so nur in den Tod führen würde, einen Tod, gegen den das Erfrieren hier draußen auf dem Eis vielleicht eine Gnade war. Aber er sprach trotzdem weiter, redete, mit einem Mal flüssig, mit ruhiger, überlegter und fast suggestiv klingender Stimme und versprach Helth eine Hoffnung, die nicht existierte. »Ich könnte dich bitten, mir ein letztes Mal zu vertrauen, Helth, aber das werde ich nicht tun. Ich befehle es dir. Ich verspreche dir kein neues Schiff, nicht einmal dein Leben, aber ich verspreche dir, daß derjenige, welcher den Untergang der SHAROKAAN auf dem Gewissen hat, dafür bezahlen wird. Wir werden ihn entweder vernichten oder selbst untergehen. Aber ich lasse nicht zu, daß deine Männer ihr Leben wegwerfen. Ich lasse nicht zu, daß du es wegwirfst, Helth.«

Es waren nicht seine Worte, die ihm da so glatt über die Lippen kamen, sondern Worte, die ihm das Ding in seinem Inneren eingab. Er spürte es, fühlte, wie es wie eine schwarze, brodelnde Woge aus den tiefsten Abgründen seiner Seele emporquoll, seine Gedanken, seinen Willen überflutete und sein Bewußtsein in ein Netz undurchdringlicher Finsternis einzuspinnen begann. Aber er wehrte sich nicht mehr dagegen. Er hatte es zu oft getan, und jetzt fehlte ihm die Kraft dazu. Im gleichen Moment, in dem er den Fuß auf den Leib des Dronte gesetzt hatte, war es erwacht, und es war stärker als je zuvor.

»Dort drüben, Helth«, sagte er mit einer theatralischen, weit ausholenden Geste, »irgendwo hinter den Bergen wird die Entscheidung fallen. Vielleicht werden wir alle sterben, bevor wir ihnen auch nur nahe kommen, aber wenn, dann haben wir es wenigstens versucht. Du willst nicht, daß deine Männer wie die Tiere krepieren - das waren doch deine Worte. Du hast die Wahclass="underline" Ihr könnt hierbleiben und sterben, oder ihr könnt euch zum Kampf stellen, wie es sich für freie Männer gehört. Tiere, Helth, legen sich hin und sterben, wenn sie keinen Ausweg mehr sehen. Menschen kämpfen.«

»Und sterben ebenfalls.«

»Manchmal«, schränkte Skar ein. »Aber manchmal siegen sie auch und leben weiter.« Seine Worte waren fast das genaue Gegenteil von dem, was er noch vor Augenblicken gesagt hatte, aber Helth schien das nicht zu merken. Er hatte gewonnen. Er spürte es, noch bevor er in Helth' Augen sah und den Ausdruck darin erkannte. Seine Worte waren von fast hypnotischer Eindringlichkeit gewesen; Helth war keine Chance geblieben, sich zu wehren. Er war ein Kind im Körper eines Mannes, auf seine Art naiv und verletzlich, und Skars Worte hatten ihn an seiner verwundbarsten Stelle getroffen. Er hatte ihn daran erinnert, als was er gelebt, woran er geglaubt hatte. Zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort hätte Helth vielleicht darüber gelacht, aber was geschehen war, hatte die Mauern, die er um sich herum aufgerichtet hatte, durchbrochen und ihn verletzlich werden lassen. Seine Welt war zusammengestürzt, Stück für Stück, und alles, was ihm geblieben war, waren Erinnerungen. Skar gab ihm die Chance, sie noch einmal, wenn auch nur für kurze Zeit, auferstehen zu lassen.