»Ich weiß es nicht«, murmelte Gowenna. Diesmal klang es ehrlich. »Du lügst«, behauptete Del. »Du hast im Fieber gesprochen, Gowenna. Entweder lügst du jetzt, oder du hast heute morgen gelogen. Aber ich habe noch nie von einem Fall gehört, in dem ein Mensch im Fieber die Unwahrheit gesagt hätte.«
Es dauerte lange, bis Gowenna antwortete. Als sie es tat, sah sie Skar an, nicht Del. »Vela ist völlig unwichtig«, erklärte sie. »Du hattest recht, als du gesagt hast, sie hätte nicht mehr die Kraft, noch einmal zu kämpfen. Ich... ich glaube, sie wird sterben, Skar.«
»Und warum sind wir dann hier?« wollte Del wissen. Skar warf ihm einen raschen, warnenden Blick zu, den Del wütend erwiderte. Aber wenigstens hielt er den Mund.
»Es ist wegen...« Wieder brach sie ab und blickte an Skar vorbei. Ihre Mundwinkel zuckten. »Wegen des Kindes«, stieß sie schließlich hervor. »Die Gefahr ist das Kind, nicht Vela.«
»Das Kind?« ächzte Del. »Welche Gefahr soll von einem ungeborenen Kind ausgehen?«
»Keine«, antwortete Gowenna. Ihre Lippen bewegten sich kaum beim Sprechen. »Aber wenn es geboren ist, wird es schlimmer und tödlicher sein, als Vela jemals hätte werden können. Es wird ein Kind des Schreckens sein, Skar, ein Werkzeug des Bösen, gegen das alle Dämonen, die Vela heraufbeschworen hat, zu einem Nichts verblassen.« Skar hatte plötzlich das Bedürfnis zu lachen, schrill, laut und hysterisch zu lachen. Aber er brachte keinen Laut hervor. Gowenna hatte nur ausgesprochen, was er schon lange Zeit insgeheim wußte. Dieses Kind war sein Erbe. Der Erbe des Dinges, das in ihm schlummerte. »Das da unten«, fuhr Gowenna nach einer Weile fort, und er hörte ihre Stimme nur dünn, wie durch einen unsichtbaren, dämpfenden Schleier hindurch, »ist Cor-ty-cor, die Festung der Sternengeborenen. Ihr wart in Combat, und ihr habt gesehen, mit welchen Waffen sie gegen die Alten gekämpft haben. Feuer. Es war das Feuer der Sterne, Skar, das sie aus ihrer Heimat mitgebracht und gegen die Menschen geschleudert haben, und die Alten wehrten sich mit Eis und Kälte.« Feuer und Eis, dachte Skar. Wo hatte er diese Worte schon einmal gehört? Tantor. Es war Tantor, der Zwerg, gewesen, der sie benutzte, immer und immer wieder, aber er hatte ihnen keine Bedeutung zugemessen. Plötzlich fiel ihm ein, wie wenig er im Grunde noch immer über ihn wußte. Seinen Namen, nicht mehr. Er war sicher, daß Tantor ihnen mehr hätte sagen können. Aber Tantor war tot.
»Festung«, murmelte Del fassungslos. »Das...«
»Was du siehst«, unterbrach ihn Gowenna, »sind ihre Ruinen. Sie war aus Eis und Dunkelheit gebaut, und sie versank in Eis und Schweigen, als alles vorbei war. Sie ist tot, Del. Und ihre Bewohner schlafen.« Del wollte erneut auffahren, aber diesmal brachte Skar ihn sofort zum Schweigen. Es war das zweite Mal, daß Gowenna ein Wort benutzte, das nicht paßte, und er war sicher, daß es kein Zufall war. »Was bedeutet das?« fragte er: »Schlafen?«
»Das, was es bedeutet«, antwortete Gowenna ausweichend. »Sie schlafen nur, Skar. Sie sind nicht tot, sowenig wie die Hornkrieger Tuans. Keine Macht dieser Welt wäre stark genug, sie zu töten, denn sie sind der Tod.«
Skar widersprach nicht. Gowennas Worte hörten sich ebenso auswendig gelernt wie lächerlich an, aber er hatte den Dronte gesehen, hatte seinen Atem gespürt und im gleichen Moment gewußt, daß keine Macht des Universums dieses Wesen wirklich vernichten konnte. Vielleicht nicht einmal die Götter selbst. »Und Vela hat sie geweckt«, flüsterte er.
Gowenna verneinte. »Diese Macht hatte sie nicht«, sagte sie ernst. »Hätte sie es getan, Skar, dann wären wir alle nicht mehr am Leben. Die Großen Alten haben ein Jahrtausend gegen sie gekämpft, und nicht einmal sie konnten sie besiegen. Sie haben sie in Schlaf versetzt, einen Schlaf, der bis ans Ende der Zeiten dauern sollte. Der Dronte und die Heerscharen Tuans sind nur niedere Wesen, Diener derer, die Cor-ty-cor erschufen und Krieg gegen die Menschen führten, Skar. Einige von ihnen leben noch, so wie der Dronte und andere. Aber sie sind es nicht, vor denen ich mich fürchte. Es ist das Kind, Skar. Hast du vergessen, was Vela dir erzählt hat?«
O nein, das hatte er nicht. Ihre Worte klangen so deutlich in ihm nach, als stünde sie unsichtbar neben ihm und wiederholte sie immer und immer wieder: Ein paar von ihnen überlebten. Nur wenige - vielleicht fünfzig, verteilt über den ganzen Planeten. Sie vergaßen ihr Erbe und ihre Herkunft, aber sie lebten weiter.
In ihm.
Und in seinem Kind...
»Was wird geschehen, wenn... wenn es geboren wird?« fragte er mühsam.
»Das weiß ich nicht, Skar«, erwiderte Gowenna. »Niemand weiß das. Vielleicht nichts -« Sie lachte, leise und bitter. »Eine Zeitlang haben wir uns an die Hoffnung geklammert, es wäre so. Das Kind könnte geboren werden und ganz normal aufwachsen, so wie du. Aber es wird anders kommen, Skar. Wir... waren im Zweifel, und was geschehen ist, beweist mir, daß unsere Sorgen berechtigt waren. Vela hat die Sternengeborenen nicht wecken können, aber sie hat etwas geweckt, und dieses Etwas hat Gewalt über sie erlangt, lange bevor du sie in Tuan getroffen hast. Es war alles geplant, Skar: das Kind, deine Flucht, ich glaube, sogar ihre Niederlage. Sie war nichts als ein Werkzeug, das geopfert werden konnte.«
»Und dieses Kind...«, begann Skar halblaut, schüttelte den Kopf und blickte mit neu erwachendem Schrecken auf die bizarre Eislandschaft zu seinen Füßen herab. Cor-ty-cor, dachte er. Combat. Urcôun. Tuan. Der Dronte. Seine Gedanken begannen einen wilden Tanz aufzuführen. War denn diese ganze Welt ein Irrenhaus?
»...könnte die Macht haben, sie zu erwecken«, vollendete Gowenna, als Skar nicht weitersprach. »Es darf nie geboren werden. Nicht hier.«
»Einen Moment«, unterbrach sie Del mit einem ebenso wütenden wie verwirrten Seitenblick auf Skar. »Auch wenn ich nur die Hälfte von dem verstehe, was ihr beide da redet - aber wenn dieses Kind so gefährlich ist, warum habt ihr es ihr dann nicht genommen ? Die Errish haben die Möglichkeit -«
»Es hätte gegen unseren Glauben verstoßen, Del«, sagte Gowenna ernst. »Dieses Kind kann nichts dafür, daß man es mißbraucht, und das Leben ist uns heilig, auch das ungeborene.«
»Aber das ist doch -«
»Und es hätte nichts genutzt«, fuhr Gowenna ungerührt fort. »Die Macht ist schon in ihm - welche Macht es auch immer sein mag, Del. Selbst wenn wir Vela jetzt wiederfinden, könnten wir die Entwicklung nicht mehr aufhalten. Es würde nichts nutzen, das Kind zu töten. Was immer sie geweckt hat, Del, ist in ihm. Tötest du es, wäre es frei.«
»Aber dann -«
Gowenna unterbrach ihn erneut. »Deshalb wollten wir, daß Vela ihr Kind im Berg der Götter bekommt, Del. Wir können es nicht töten. Wir können nur dafür sorgen, daß die Macht, die es einmal haben wird, in den richtigen Händen liegt.« Sie lächelte. »Du solltest wissen, worüber ich rede, Satai. Lenke eine Kraft um, wenn du sie nicht brechen kannst.«
Dels Miene verfinsterte sich, aber Gowenna sprach weiter, ehe er Gelegenheit zu einer Entgegnung hatte. »Das ist doch einer der drei Grundsätze eurer Philosophie, nicht? Der Schaden, den sie angerichtet hat, ist nicht rückgängig zu machen. Sie wollte dieses Kind als Waffe, und es wird geboren werden. Aber diese Waffe kann sich genausogut gegen die richten, die sie erschaffen haben.«
»Und wenn es hier geboren wird?«
Gowenna schwieg, aber es war ein Schweigen, das seine eigene Sprache sprach.
»Was ist, wenn es hier geboren wird?« fragte Skar noch einmal. »Was wird dann geschehen?«
Gowenna senkte den Blick. »Noch vor zwei Tagen hätte ich mir einzureden versucht, daß wir dann noch eine Chance hätten«, antwortete sie, sehr leise und in einem Tonfall, der Skar frösteln ließ. »Aber jetzt...« Sie schüttelte den Kopf, trat einen Schritt zur Seite und lehnte sich mit der Schulter gegen den eisglitzernden Felsen. »Ihr habt den Dronte erlebt. Die Wesen, die erwachen könnten, werden tausendmal schlimmer sein.«