So war er der letzte, der in den Schutz der Eisruine hineinstolperte und sich mit einem erschöpften Keuchen gleich hinter dem Eingang zu Boden sinken ließ. Er sah nicht viel von seiner Umgebung: Was er wahrnahm, war weiß, Formen und blinkende sinnlose Flächen von grausam hellem Weiß, und er wunderte sich beinahe, daß noch keiner der Männer schneeblind geworden war. Für einen Moment - wie oft in Augenblicken der Entspannung - drohten ihn seine Kräfte vollends zu verlassen, Müdigkeit hüllte ihn ein und begann seine Gedanken zu umnebeln, aber er kämpfte die Erschöpfung nieder und zwang sich, noch einmal aufzustehen und zu Gowenna hinüberzugehen. Sie war ein paar Schritte weiter getaumelt als er und die meisten Männer, aber trotzdem dicht beim Eingang geblieben. Del war bei ihr. Er war nicht von ihrer Seite gewichen, seit sie den Paß überschritten hatten, aber er machte keinen Hehl daraus, daß er jetzt als Bewacher bei ihr blieb, nicht als Helfer. Es schien Gowenna auch nichts auszumachen. Skar stakste ungeschickt zwischen den kreuz und quer auf dem eisigen Boden liegenden und sitzenden Männern hindurch und ging vor Gowenna in die Hocke. Sie hatte sich auf eine schmale Eiszunge gesetzt, die aus einer der Wände wuchs - eine von zahllosen bizarren Formen, über deren Sinn und Zweck er schon lange nicht mehr nachdachte -, und war zusammengesunken, die Arme auf die Oberschenkel gestützt, Kopf und Oberkörper so weit nach vorne geneigt, daß sie eigentlich hätte vornüber kippen müssen. Ihr Atem ging rasch; jetzt, als er direkt vor ihr kniete, hörte er es.
Gowenna spürte seine Nähe und sah auf. Eiskristalle glitzerten auf ihrer Haut und gaben ihrem Gesicht etwas Maskenhaftes.
»Was ist das hier?« fragte Skar. Seine Worte versickerten in den Wänden. Eine bizarre, fremdartige Akustik war hier drinnen deutlich zu spüren. Trotzdem verstand ihn Gowenna.
Der Raum, in dem sie Unterschlupf gefunden hatten, war niedrig, aber groß. Das Eis über ihm war klar wie Glas, aber etwas in ihm führte seinen Blick in die Irre, so daß er nicht erkennen konnte, was darüber lag. Del würde nicht aufrecht hier stehen können, ohne gegen die Decke zu stoßen, aber die gegenüberliegenden Wände des Saales verloren sich in der Entfernung, so daß Skar nicht sicher war, was von dem, was er sah, wirklich und was Schatten war. Er war verwirrt. Von außen hatte das Gebäude klein ausgesehen.
Gowenna bewegte die Lippen. Skar winkte ab, legte behutsam die Hand unter ihr Kinn und drehte ihren Kopf so, daß sie ihn direkt ansah. Er spürte, wie sie unter der Berührung seiner Finger zusammenzuckte.
»...ffe, einer der Zugänge«, verstand er. Sein Herz hämmerte, und das dumpfe Rauschen seines eigenen Blutes füllte seine Ohren und machte es zusätzlich schwer, ihre Worte zu verstehen.
»Was für ein Zugang? Zum Hafen?«
Gowenna nickte. »Es gibt viele Wege, um hinunterzugelangen«, antwortete sie. »Meist sind sie in Türmen wie diesen. Ich... werde danach suchen. Laß mich nur einen Moment ausruhen.«
»Ich glaube, wir können alle eine Pause vertragen«, mischte sich Del ein. Er setzte sich auf, massierte grimassenschneidend seinen Nacken und bewegte die Finger, einzeln und nacheinander, als hätte er Angst, sie könnten schon zu steif und damit unbrauchbar geworden sein. Es war Skar ein Rätsel, wie es möglich war, Gowennas Worte zu verstehen. Vielleicht hatte er sie auch einfach erraten. Es war nicht schwer. »Wir sollten warten, bis der Orkan vorüber ist.«
»Wenn wir so viel Zeit haben..., aber du hast recht. Die Männer sollen ausruhen, solange der Sturm tobt. Können wir Feuer machen?« Del nickte. »Selbstverständlich. Wenn du weißt, wie man Eis zum Brennen bringt, heißt das.«
Skar überging die Bemerkung und drehte den Kopf wieder zu Gowenna. »Dieser Zugang - wo liegt er?«
Gowenna fuhr auf. »Bei allem, was heilig ist, Skar - woher soll ich das wissen? Ich war sowenig hier wie du oder irgendein anderer. Es kann Dutzende von Türmen wie diesen hier geben. Wir sind eine Meile über der Stadt, vergiß das nicht.« Sie sprach schnell und laut und gereizt, aber es war ein Zorn, der nur ihrer Erschöpfung entsprang. Nicht genug, sie zu einer Unbedachtsamkeit zu verleiten. »Wenn es ihn gibt, dann muß es eine Treppe sein, vielleicht auch nur eine Rampe - was weiß ich.«
Skar zwang sich mit Gewalt, ruhig zu bleiben. Schließlich war er es, der sie aus der Reserve locken wollte, nicht umgekehrt. »Dann werden wir danach suchen«, sagte er gepreßt: »Del?«
Del machte keinen Hehl daraus, daß er alles andere als begeistert von Skars Idee war. Trotzdem stand er auf, verschränkte die Finger ineinander und ließ die Gelenke knacken. Seltsamerweise war dieser Laut deutlich zu hören. Einen Moment lang blieb er reglos stehen, dann beugte er sich zu einem der Matrosen hinab, wechselte ein paar Worte mit ihm und deutete auf Gowenna. Der Mann nickte. Gowennas Miene verfinsterte sich sichtlich.
»Wohin?«
Skar sah sich unschlüssig um. Alles um ihn herum war weiß, weiß in allen nur denkbaren und einer ganzen Menge undenkbaren Schattierungen und Tiefen. Er sehnte sich nach Farbe. Selbst das Feuer des Dronte erschien ihm für einen Moment besser als diese erstarrte weiße Einöde.
»Dort entlang.« Skar deutete ziellos nach vorne. Jede Richtung schien so gut wie die andere.
Del nickte; eine knappe, abgehackt wirkende Bewegung, bei der sein Blick dem Skars auswich, sein Gesicht war starr, nur um die Mundwinkel zuckte es manchmal. Skar hatte diesen Ausdruck unzählige Male auf seinen Zügen gesehen: dieses rasche, nur an Del zu beobachtende Nicken und die Art, in der sich seine Finger immer wieder um den Griff seiner Waffe schlossen. Es war Dels ganz persönliche Art, sich (auf einen Kampf?) vorzubereiten. Mit seiner Nervosität fertig zu werden. Er ahnte, was in dem jungen Satai vorging. Es war schlimm genug, zwischen den bizarren weißen Gebilden draußen auf dem Eis herumgehen zu müssen. Ins Innere dieses Monstrums aus Eis und erstarrter Furcht vordringen zu sollen war ein Alptraum. Und für einen kurzen, ganz kurzen Moment glaubte er dem alten Del gegenüberzustehen, spürte er einen schwachen Hauch dieses vertrauten, warmen Gefühles, das sie einst verbunden hatte.
»Komm.«
Das Wort ließ die Illusion zerplatzen. Skar nickte, kramte eine Fackel aus seinem Bündel und suchte nach Feuersteinen. Er fand keine, hob resignierend die Schultern und legte die Fackel zurück. Sie würden nicht so tief in das Gebäude vordringen, um sie zu brauchen. Sie ließen Gowenna und die Freisegler zurück und machten sich auf den Weg ins Innere des blitzenden Riesenkristalles. »Du weißt schon, daß es nicht viel nutzt, ziellos hier herumzustolpern, nicht?« fragte Del.
Skar nickte. Er wußte selbst nicht so recht, was er zu finden hoffte, vielleicht wollte er einfach nur allein sein. Und er hatte Angst gehabt, einzuschlafen, sobald er sich ruhig hinsetzte.
Nach einer Weile wurde der Boden uneben. Die Decke senkte sich, so daß bald nicht nur Del, sondern auch er gebückt gehen mußten und im Boden gähnten jetzt Löcher, zu perfekt gerundet, um zufällig entstanden zu sein, aber nur wenige Fuß tief. Dann erreichten sie die gegenüberliegende Wand. Skar blieb stehen, drehte sich um und sah zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Die Männer waren nicht mehr zu sehen, obwohl sie nur ein paar Dutzend Schritte zurückgelegt hatten.
»Da vorne ist eine Tür«, sagte Del. Skar blickte in die Richtung, in die er wies. Es war ein niedriger, dreieckiger Durchgang, hinter dem die ersten Stufen einer steil in die Tiefe führenden Treppe sichtbar wurden. Sie gingen weiter, blieben aber erneut stehen, als sie den Durchgang erreicht hatten. Del spielte nervös mit seiner Waffe, und das flackernde Licht verlieh seinen Zügen Bewegung, die nicht da war. Skar setzte dazu an, etwas zu sagen, aber Del schüttelte hastig den Kopf; Skar schwieg und lauschte.