Vor ihnen, auf der anderen Seite der schimmernden Wand aus Weiß und finsterer Magie, war etwas. Der Raum dort drüben war nicht still und verlassen, sondern voller Dinge, die nicht dorthin gehörten. Es war nichts Greifbares, nur Geräusche, die die Barriere aus Schweigen unterliefen und vielleicht natürlichen Ursprunges waren, zu denen seine Phantasie aber Bilder erschuf, ohne daß er sich dagegen wehren konnte: Laute wie von fernen Blitzen, die in Wälder fuhren, ein Krachen und Bersten wie von zersplitterndem Eis oder von Kontinenten, die sich aneinanderrieben, das Heulen des Sturmes, das er draußen vermißt hatte und das plötzlich wie ein mühsames Atmen klang. Ein Pochen und Schlagen wie das eines gewaltigen bösen Herzens... Skar schüttelte die Bilder mühsam ab und versuchte sich einzureden, daß es nichts als Einbildung war, vielleicht ein letzter Schatten des Traumes, den er am Morgen gehabt hatte und der ihm in die Wirklichkeit hinüber gefolgt war und seine Sinne narrte. Aber als er sich aufrichtete und in Dels Gesicht sah, erkannte er, daß er diesmal nicht allein mit seiner Furcht war, daß auch er es spürte und daß es ihn ebenso erschreckte. Vielleicht mehr. Er hatte etwas die ganze Zeit über gefühlt, den Ruf des unseligen Geistes, der diesem Land innewohnte. Für Del war die Stimme dieses finsteren Gottes neu und doppelt erschreckend.
Del machte einen einzelnen Schritt, blieb wieder stehen und zog sein Schwert. Der Stahl fing das weiße Licht des Eises auf und warf es verzerrt zurück an die Wand; für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Skar, durch das milchige Eis hindurchsehen zu können, etwas Großes, Gigantisches und Böses zu erkennen, das dort drüben lauerte, mit der Geduld eines finsteren Rachegottes wartete und lauerte...
Skar atmete hörbar ein. Das Flüstern in seinem Inneren wurde lauter, drängender, hatte jetzt eindeutig den Charakter einer Warnung. Für einen Moment ließen die flackernden Lichtblitze die Umrisse seines eigenen Gesichtes auf der Wand vor ihm entstehen. Dann verging es, das Eis war wieder glatt und makellos.
Del atmete hörbar ein und schlug mit dem Schwertknauf gegen die Wand neben dem Durchgang, als hätte er Angst, das Eis könne hinter ihm zusammenbrechen, ehe er gebückt hindurchtrat und vorsichtig den Fuß auf die oberste Stufe setzte. Skar folgte ihm.
Die Treppe führte steil in die Tiefe. Ihre Stufen waren unterschiedlich hoch und in verschiedenen Winkeln zueinander geneigt, das Gehen war schwierig. Das Licht, das hinter ihnen durch die Tür fiel, breitete sich wie eine glitzernde Flüssigkeit in den Wänden aus und ließ sie von innen heraus leuchten. Skar versuchte, die Stufen zu zählen, die sie nahmen, aber irgend etwas schien mit seinen Gedanken zu geschehen: Er verzählte sich, wußte plötzlich nicht mehr weiter und gab es auf. »Skar!« Dels Stimme wehte geisterhaft verzerrt zu ihm herauf, leise und hallend, als wäre er Meilen unter ihm statt weniger Schritte. »Hier geht es weiter.«
Del deutete mit der Schwertspitze auf ein gezacktes, mannsgroßes Loch in der Wand, zögerte einen Moment und trat dann kurz entschlossen hindurch. Skar beeilte sich, ihm zu folgen.
Der Anblick war überwältigend, von fast betäubender Wirkung. Sie standen auf einem schmalen, an einer Seite im Nichts endenden Sims aus Eis, zu ihren Füßen ein Schacht, der geradewegs in die Hölle hinabzuführen schien. In seiner Mitte erhob sich eine gewaltige zerschrundene Säule aus Eis, hundert oder mehr Manneslängen durchmessend und auf unmögliche Weise zusammengestaucht und in sich selbst verdreht. Skar schwindelte, als er versuchte, an ihr hinabzusehen. Der Schacht mußte mehr als eine Meile in die Tiefe führen; der Fuß der gewaltigen Eissäule verlor sich in wogendem Nebel, und irgendwo unter ihnen leuchtete etwas.
»Endstation«, sagte Del lakonisch. Seine Stimme wurde vom Eis aufgefangen und reflektiert, tausendfach gebrochen und verzerrt. »Hier geht es jedenfalls nicht weiter.«
Der Sims, auf dem sie standen, führte auf einer Seite in kühnem Bogen über den Abgrund und verschmolz mit den obersten Stufen einer steilen, wie ein Schneckenhaus gewundenen Treppe, die in einer endlosen Spirale an der Außenseite des titanischen Pfeilers in die Tiefe führte. Der Anblick erinnerte ihn an die Höhle der Drachen tief unter den Mauern Elays. Aber anders als dort war diese Treppe zerstört; die Stufen endeten nach wenigen Metern im Nichts, zerfetzt und zerbrochen von den gleichen Gewalten, die den Pfeiler zusammengepreßt hatten. Skar war fast erleichtert. Die Vorstellung, über diese Treppe eine Meile oder vielleicht mehr hinabsteigen zu sollen, jagte ihm einen eisigen Schauer über den Rücken.
Skar schluckte, um den bitteren Geschmack, den er auf seiner Zunge spürte, loszuwerden, drehte sich um und trat wieder hinaus auf die Treppe. Der Weg hinauf erschien ihm weiter als der hinunter, und mit jeder Stufe, die er nahm, wurde das Bedürfnis stärker, einfach loszustürmen und zu rennen, so schnell er konnte. Er atmete erleichtert auf, als sie endlich wieder oben in der Halle waren.
Etwas war anders. Es war, als wäre ihnen die Furcht, die sie dort unten überfallen hatte, nachgekrochen und hätte sich in den eisigen Wänden hier oben eingenistet. Anders als noch vor wenigen Augenblicken fingen die glitzernden Eisskulpturen an den Wänden und an der Decke das Licht auf und verstärkten es; der Saal schimmerte wie ein gewaltiger ausgehöhlter Kristall, in dem ein Strahl Sonnenlicht eingefangen war. Skar machte einen Schritt, blieb stehen und tauschte einen beinahe hilflosen Blick mit Del. Das Knistern und Mahlen war noch immer zu hören, aber es gelang Skar nicht, die Quelle des Geräusches auszumachen - es schien aus Boden und Wänden und Decke, ja selbst aus der Luft zu kommen, körperlos und unabhängig von irgend etwas anderem zu entstehen, als hätte es keine Ursache, sondern existierte isoliert. Vielleicht war es kein Geräusch, sondern etwas, das er nur dafür hielt, weil er kein anderes Wort dafür fand. Und es war jetzt auf dieser Seite der Wand...
Del drehte sich langsam um seine eigene Achse, streckte den Arm aus und stützte sich an der Wand ab. Das Eis begann unter seinen Fingern zu schmelzen; Dels Körperwärme verwandelte es in Wasser, das in winzigen gezackten Bahnen zu Boden lief und auf halbem Wege wieder gefror. Tausendmal rascher als normal. Der Gedanke blitzte so schnell hinter Skars Stirn auf, als wäre er nicht in ihm entstanden, sondern von außen gekommen; eine Botschaft. Vielleicht eine Warnung. »Skar«, keuchte Del. »Was... was ist das?« Sein Blick flackerte, und in seiner Stimme war ein leiser, beinahe schon hysterischer Unterton. Seine Fingernägel bohrten sich durch den Umhang in Skars Oberarm, so fest, daß er vor Schmerz aufstöhnte. Del schien es nicht einmal zu bemerken. »Was ist das, Skar?« wiederholte er. Sein Blick saugte sich an einer Stelle unweit des Durchganges fest, und als Skar ihm folgte, erkannte er etwas Dunkles, Wirbelndes hinter dem blitzenden Eis. Felsen, der kein Felsen war.
Skar streifte seine Hand ab, zog sein Schwert aus dem Gürtel und machte einen zögernden Schritt nach vorn. Seine Hände zitterten. Das Eis knisterte unter seinen Stiefeln wie eine dünne, verwundbare Haut. Dicht vor der Wand blieb er stehen, wechselte das Schwert in die Linke und griff mit der rechten Hand nach dem Eis. Seine Finger zitterten stärker, verharrten Millimeter über der trügerischen weißen Glätte. Plötzlich hatte er Angst, sie zu berühren.
Er war nicht überrascht, als er die Finger gegen das Eis preßte und das Wispern hörte. Das Schlagen eines gewaltigen finsteren Herzens. Die Stimme des Dronte, mit der das Eis flüsterte. Seine Finger folgten den dunklen, haarfeinen Linien, die sich unter der milchigen Oberfläche der Wand abzeichneten. Es waren Risse, dünne, geborstene Linien, die einer fremdartigen Symmetrie folgten, weiterliefen, noch während er dastand und sie anstarrte, ein Muster, ein Netz bildeten... Skar fuhr so abrupt herum, als wäre die Wand plötzlich glühend heiß geworden. Sein Blick streifte Del, glitt neben ihm an der Wand hinab, über den Boden und wieder hinauf. Es war überall, nicht nur hier, sondern hinter und neben Del, selbst unter seinen Füßen. Ein Netz dunkler zuckender Linien, Risse und Sprünge, das mit unglaublicher Geschwindigkeit wuchs. Das Eis sprang, zerbarst mit lautlosen, harten Schlägen und formte sich zu etwas Neuem, Tödlichem.