Eine, vielleicht zwei Sekunden blieb Skar reglos und geduckt neben dem Eingang stehen, ehe er es wagte, den Schild herunterzunehmen, und sich - noch immer vorsichtig und jederzeit auf einen Angriff gefaßt - aufrichtete. Um ihn herum tobte ein weißes Inferno aus wirbelnden Schwaden, hinter denen die Umrisse der anderen Gebäude seltsam verschwommen und schemenhaft erschienen.
»Bravo, Satai.« Die Stimme schien von überall her gleichzeitig zu kommen. Der Sturm und die glitzernden Eiswände reflektierten sie, brachen ihren Klang und vermittelten Skar den Eindruck, als stünde der Sprecher unmittelbar neben ihm. Er fuhr herum, hob das Schwert ein wenig höher und versuchte, Helth hinter den kochenden Schneewirbeln auszumachen.
»Eine eindrucksvolle Vorstellung!« höhnte der Vede. »Aber nicht sehr klug. Hast du mich wirklich für so närrisch gehalten, direkt vor der Tür auf dich zu warten?« Er lachte, schrill und in einem Tonfall, der Skar schaudern ließ. Seine Stimme klang nicht mehr menschlich. Sie war hart; Töne, die von Stimmbändern aus Eis erzeugt wurden. Skar trat einen Schritt zur Seite, blinzelte aus zusammengekniffenen Augen in den tobenden Sturm und winkte mit dem Schwert; das Zeichen für Del und die Männer, ihm zu folgen.
Endlich entdeckte er Helth. Er stand, hoch aufgerichtet und völlig deckungslos, als gäbe es den Sturm und die reißenden Eiskristalle nicht, dreißig oder vierzig Schritte entfernt auf einem mannshohen Vorsprung und blickte herausfordernd in seine Richtung. »Komm her!« schrie Skar. »Wenn du einen Kampf willst, dann komm her, Helth!« Er kam sich beinahe albern vor, und der Sturm und Cor-ty-cor verschluckten seine Worte, aber Helth verstand sie trotzdem, so wie auch Skar seine Stimme hörte.
Er lachte. »Narr!« höhnte er. »Du hattest die Chance zu einem fairen Kampf, Satai, aber du wolltest ja nicht. Jetzt spielen wir nach meinen Regeln!« Seine Hände bewegten sich, und - war es wirklich Zufall, dachte Skar entsetzt? - die tobenden Schwaden rissen auf, der Sturm legte sich, und der Schnee trieb auseinander, so daß er Helth deutlicher erkennen konnte.
»Bei allen Göttern!« keuchte Del neben ihm. Skar hatte nicht gemerkt, wie er herangekommen war, und er drehte sich auch jetzt nicht herum, sondern starrte gleichermaßen fasziniert wie von Grauen gepackt zu der schlanken Gestalt des Veden hinauf. Helth war nackt. Seine Haut glitzerte wie ein starrer gefrorener Panzer, Haar und Brauen waren zu Eis erstarrt, und sein Körper war mit dunklen Flecken übersät, wo die Haut bereits abgestorben und zu spröden schwarzen Flecken erstarrt war. Seine Füße waren bis zu den Waden hinauf dunkel und erfroren und die Hände zu verkrümmten, schwarzglitzernden Klauen geschrumpft. Skar hatte plötzlich die irrsinnige Vorstellung, Helth' Gelenke wie trockenes Laub rascheln zu hören, als der Vede mit kraftvollem Schwung von seinem Standort heruntersprang und über das Eis auf sie zukam.
»Du willst kämpfen?« fragte Helth noch einmal. »Du bist ein Idiot, Satai. Wie viele von euch muß ich noch umbringen, bis du begreifst, daß du verloren hast. Ich gebe dir eine letzte Chance. Geh zurück zum See, Skar. Vielleicht ist noch genug von der SHAROKAAN übrig, um ein Floß daraus zu bauen. Geh, oder ich muß euch töten.«
Del wollte antworten, aber Skar brachte ihn mit einem hastigen Wink zum Schweigen. Sein Verstand weigerte sich, das Bild, das seine Augen sahen, als wahr anzuerkennen, aber Skar versuchte erst gar nicht mehr, eine logische Erklärung zu finden. Er ist tot, dachte er hysterisch. Erstarrt. Er ist erfroren.
»Geh zurück, Skar!« sagte Helth noch einmal. »Mir liegt nichts an eurem Tod. Aber ich werde euch vernichten, wenn ihr nicht umkehrt. Du weißt, daß ich es kann.«
»Halt ihn auf«, flüsterte Del. »Versuche ihn irgendwie hinzuhalten.«
Skar nickte fast unmerklich. Del verschwand zwischen den Männern, die einer nach dem anderen aus dem Gebäude drängten, und Skar machte einen Schritt auf Helth zu, blieb aber stehen, als der Vede warnend die Hand hob. »Was willst du?« fragte er laut. »Und wer bist du, Helth?«
Helth lachte, schrill und mißtönend. Seine Reaktionen sind nicht mehr die eines Menschen, dachte Skar bestürzt. Er benahm sich wie jemand - oder etwas -, der darum bemüht ist, menschliches Verhalten nachzuahmen. Gut, aber nicht gut genug, um ihn zu täuschen. »Wer ich bin? Ich bin Helth, Rayans Sohn«, antwortete er. »Und Brads Bruder, Satai. Das weißt du doch. Schließlich hast du sie beide umgebracht.«
Skar fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. Er wußte nicht, was Del vorhatte, aber er mußte Zeit gewinnen. Warum fiel es ihm nur so schwer, sich zu konzentrieren, einen klaren Gedanken zu fassen? »Das ist nicht wahr«, sagte er lahm. »Du bist nicht Helth. Du -«
Helth schnitt ihm mit einer ungeduldigen Bewegung das Wort ab. »Genug geredet, Satai«, zischte er. »Geh, solange noch Zeit ist. Ich schenke dir dein Leben, Satai. Dir, deinem Freund und den Männern.« Skar schwieg einen Moment. »Und Gowenna?«
»Sie bleibt.« Helth kicherte. »Sie würde sowieso keinen Wert darauf legen, dich zu begleiten, glaube ich. Entscheide dich, Satai - gleich. Geh, oder -«
Skar wußte nicht, wie es Del gelungen war, das Gebäude in wenigen Sekunden zu umrunden und in Helth' Rücken zu gelangen, aber der junge Satai war plötzlich da, überwand die letzten Meter mit einem kraftvollen Satz und warf sich mit weit ausgebreiteten Armen auf den Veden.
Aber Helth reagierte vollkommen anders, als Del erwartet hatte. Er versuchte weder auszuweichen noch Dels eigene Kraft auszunutzen, um den Angreifer über sich hinwegzuschleudern; auf beides wäre Del vorbereitet gewesen und hätte entsprechend reagiert, aber Helth blieb einfach stehen, fing Dels Anprall mit übermenschlicher Kraft auf und rammte ihm im gleichen Augenblick die Faust in den Leib. Del stolperte zurück, brach in die Knie und preßte die Hände gegen den Leib. Sein Mund öffnete sich zu einem lautlosen Schrei.
Skar rannte mit verzweifelter Kraft los, aber er hatte plötzlich das Gefühl, durch einen unsichtbaren, zähen Sirup zu waten. Seine Bewegungen kamen ihm lächerlich langsam vor. Hinter ihm setzten sich die Krieger in Bewegung, aber Skar wußte, daß sie zu spät kommen würden. Er schrie, um Helth von Del abzulenken, riß den Schild in die Höhe und führte gleichzeitig einen geraden Stich nach Helth' Gesicht. Der Vede wich dem Angriff mit der gleichen übermenschlichen Schnelligkeit aus, mit der er auf Dels Angriff reagiert hatte. Er lachte, ließ die flache Hand auf Skars Schild prallen und brachte ihn damit aus dem Gleichgewicht. Skar stolperte an ihm vorüber, fiel und schlug noch im gleichen Moment zu. Die Spitze seines Schwertes schrammte über Helth' Bein und riß es vom Fußknöchel bis zum Knie auf. Helth taumelte mit einem wütenden Knurren zurück, kämpfte einen Herzschlag lang um sein Gleichgewicht und stürzte auf die Knie, als das verletzte Bein unter seinem Körpergewicht nachgab. Aber die Wunde war nicht tief; ein Kratzer, der gerade durch die Haut gedrungen war und nur hier und da blutete. Skar und er kamen im gleichen Augenblick wieder auf die Füße.
Der Vede griff sofort wieder an. Seine Faust schoß vor und traf Skars Schild; seine erfrorenen schwarzen Finger verkrallten sich in seinen Rand und rissen Skar mit einem brutalen Ruck abermals aus dem Gleichgewicht. Skar trat nach seinem Bein und traf, aber Helth schien den Tritt nicht einmal zu spüren. Er lachte schrill, griff auch mit der anderen Hand nach Skars Schild und wirbelte ihn wie ein Spielzeug herum. Skar schrie auf, riß das Schwert empor und schlug zu, während Helth weiterhin mit brutaler Kraft an seinem Schild zerrte. Die Klinge traf seine Schläfe nur mit der Breitseite und einem Bruchteil der Wucht, die der Hieb gehabt hatte. Helth nahm auch diesen Treffer hin, ohne mehr als einen grunzenden Schmerzenslaut auszustoßen, spreizte die Beine und riß Skar gleichzeitig zu sich heran und in die Höhe. Er fiel. Helth ließ den Schild nicht los, verdrehte ihn und seinen Arm, der in den metallenen Halteschlaufen gefangen war. Skar schrie vor Schmerz, sein Schwert entfiel ihm und er begann sich zu winden, aber Helth vollzog jede seiner Bewegungen mit unglaublicher Schnelligkeit nach und verdrehte seinen Arm weiter. Der Schmerz wurde unerträglich. Eine Winzigkeit mehr, und sein Ellbogengelenk würde zerbrechen wie eine Nußschale.