Skar schob sie grob beiseite, ging aber trotzdem nicht weiter. Es war absurd, aber er hatte plötzlich das Gefühl, sich vor diesem Kind rechtfertigen zu müssen. »Ich lasse euch nicht im Stich«, stellte er richtig. »Es tut mir leid, wenn du es so siehst, aber es ist nicht so. Ich... ich muß einfach fort. Weg von Del, ja, aber auch weg von diesem Heer, weg von diesem Krieg, weg von ... von diesem verdammten Ort.«
Und genau das war es. Es war, als zerrisse ein unsichtbarer Schleier, der bisher über seinem Denken gelegen hatte; als hätte er es erst laut aussprechen müssen, um die Wahrheit zu erkennen, obwohl sie so simpel war: Es war dieser Ort. Diese Burg mit ihren schwarzen, himmelstürmenden Mauern und ihrer Kälte und Finsternis. Es hatte begonnen, als er das erste Mal hiergewesen war, als Drasks Gefangener und später sein scheinbarer Verbündeter, und es war weitergegangen, nachdem Del und er diese Festung genommen hatten und zum zweiten Mal hierhergekommen waren. Es war etwas an - in - ihr, das seine Gedanken wie ein schleichendes Gift verpestete, das nicht nur ihn, sondern jeden hier reizbar und aggressiv und böse machte. Es war ganz genau so, wie Kiina gesagt hatte: Dieser Ort war böse. Und er ließ jeden böse werden, der zu lange in seinen Mauern weilte.
Kiinas Gedanken schienen in den gleichen Bahnen zu verlaufen, denn sie widersprach ihm nicht mehr. Sie versuchte auch nicht, ihn noch einmal zurückzuhalten, sondern nickte im Gegenteil.
»Dann komm mit mir«, schlug sie vor. »Geh mit mir zurück nach Elay, Skar.«
Einen Moment lang war Skar wirklich versucht, ihr Angebot anzunehmen. Aber nur für eine Sekunde. Es war sinnlos. Er hatte das Netz gesehen, und das, was es aus den Errish gemacht hatte. Dieses Ding hatte zehntausend Ehrwürdige Frauen und ihre unbesiegbaren Drachen überwunden - was sollte er wohl dagegen ausrichten?
»Nein«, entschied er. »Es wäre sinnlos, Kiina. Und es wäre auch nicht das, was ich will.«
»Was willst du dann?« schrie Kiina plötzlich, »Davonlaufen? Dich verkriechen, bis sie ganz Enwor in ihrer Gewalt haben?«
»Ganz Enwor...« Skar lächelte matt. »Enwor ist groß, Kindchen. Unglaublich groß. Selbst die Sternengeborenen können nicht eine ganze Welt erobern.«
»Du läufst davon«, behauptete Kiina stur. »Du hast Angst, Satai.«
»Vielleicht«, antwortete Skar ernst. »Und vielleicht wirst du mich eines Tages sogar begreifen. Und jetzt - lebe wohl.« Er öffnete die Tür und trat auf den Gang hinaus, aber er hatte Kiina unterschätzt. Mit einem Sprung setzte sie ihm nach und klammerte sich an seinen Arm, so daß er abermals stehenblieb. »Ich lasse dich nicht gehen!« rief sie. Ihre Stimme wurde schrill und drohte überzuschnappen. »Ich lasse nicht zu, daß du uns im Stich läßt. Wir brauchen dich, Skar. Ich lasse dich nicht -« Skar ohrfeigte sie.
Der Schlag war nicht sehr heftig, aber er traf Kiina so überraschend, daß sie zurücktaumelte und gegen die Wand prallte. Ihre Augen wurden groß und füllten sich mit Tränen. Skar blickte sie einen Moment lang betroffen an, setzte zu einer Entschuldigung an - und wandte sich dann brüsk um. Innerlich kochte er noch immer vor Wut, aber er spürte auch, wie sich bereits die ersten Zweifel in ihm breit machten, und er kannte sich selbst zu gut, um nicht zu wissen, daß er Kiinas Bitten und dem, was er für Vernunft und Einsicht halten mochte, vielleicht nachgeben würde, wenn er auch nur noch eine einzige Minute blieb.
Er ging weiter, hörte, daß Kiina ihm abermals folgte, und begann zu laufen, bis er zur Treppe gelangte. Zum zweiten Mal in dieser Nacht stürmte er auf den Hof hinaus, aber diesmal war es wirklich eine Flucht - und er wurde auch wirklich verfolgt, wenn auch nur von einem sechzehnjährigen Mädchen, das einfach nicht begreifen wollte, daß die Welt nicht so war, wie es seiner Vorstellung entsprach. Er fiel in einen schnellen Schritt zurück, um nicht noch mehr Aufsehen zu erregen, als er es ohnehin schon tat, überquerte den Hof und erreichte die Ställe, Sekunden, ehe Kiina ihn einholte und abermals am Arm ergriff.
»Du kannst mich ruhig wieder schlagen«, sagte sie trotzig. »Ich lasse dich nicht los.«
Skar schlug sie nicht. Er ging einfach weiter, und er war sehr viel stärker als Kiina - sie wurde einfach mitgezerrt, und nach ein paar Schritten sah sie die Sinnlosigkeit ihres Tuns auch ein und ließ seinen Arm wieder los. Skar stieß die Tür der Stallungen mit einem Ruck auf, sah sich kurz um und steuerte die erste der zahllosen Boxen an, in denen die Pferde untergebracht waren. Ohne auf Kiinas Jammern zu achten, riß er das Zaumzeug vom Haken, begann ein Pferd aufzuschirren und sah sich nach einem Sattel um. Er fand keinen, aber das machte nichts. Er hatte eine Decke bei seinem Gepäck, die er kurzerhand über den Rücken des Pferdes warf. Del hatte ihm ein wenig Geld gegeben, das ausreichen mochte, in der nächsten Stadt einen Sattel und besseres Zaumzeug zu erstehen. Und wenn nicht - nun, er war schon mit weniger losgezogen.
Kiina vertrat ihm abermals den Weg, als er das Pferd am Zügel ergriff und aus dem Stall führen wollte. Aber sie versuchte nicht mehr, ihn mit Gewalt zurückzuhalten, sondern verlegte sich aufs Bitten.
»Bitte, Skar!« flehte sie. »Nimm mich mit. Ich ... ich verstehe ja, wenn du nicht hierbleiben willst! Dieser Ort ist böse. Aber nimm mich mit! Wenn nicht nach Elay, dann wohin immer du willst! Laß mich nicht hier!«
Skar schüttelte ihren Arm ab und schwang sich auf den Rücken des Pferdes. Kiina versuchte sich an sein Bein zu klammen, aber Skar schüttelte sie ohne große Mühe ab. Fast gleichzeitig ließ er das Tier einen Satz machen, der das Mädchen zwang, einen weiteren Schritt zurückzuweichen. Dann griff er entschlossen in die Zügel und ließ das Pferd so schnell über den Hof traben, wie es inmitten all der Krieger und Quorrl überhaupt möglich war.
Aber er hatte Kiinas Entschlossenheit abermals unterschätzt - sie rannte ihm nicht nach, wie er fast befürchtet hatte, aber sie tat etwas anderes: Er hatte kaum die Hälfte der Strecke überwunden, als die Stalltür abermals aufflog, und Kiina auf dem Rücken eines ungesattelten Pferdes herausgesprengt kam. Und sie ging sehr viel weniger rücksichtsvoll vor als er - sie preschte so schnell auf ihn zu, daß ein paar Männer entsetzt zur Seite sprangen, um nicht einfach über den Haufen geritten zu werden.
Skar seufzte tief, ritt bis zum Tor und hielt an. Bisher hatte ihn Kiinas kindisches Benehmen nur geärgert, aber allmählich versetzte es ihn in Wut. Grob fiel er ihr in die Zügel, als sie neben ihm hielt, und packte mit der anderen Hand ihren Arm.
»Was soll das?!« fragte er barsch. »Ich habe gesagt, du kannst nicht mitkommen!«
Kiina riß ihren Arm los und funkelte ihn an. »Du kannst mich nicht daran hindern«, antwortete sie herausfordernd. »Ich bin nicht deine Gefangene! Ich kann tun und lassen, was ich will.« Skar setzte zu einer wütenden Antwort an, schüttelte aber dann nur den Kopf und zwang sein Pferd, sich auf der Stelle herumzudrehen. »Du wirst erfrieren, Kindchen«, warnte er. »Und wenn nicht das, dann verhungern oder vom Pferd fallen und dir den Hals brechen.« Er deutete mit der Hand nach Westen, den Berg hinunter und zum Fluß. »Siehst du die Ebene dort?« Fragte er. »Sobald wir sie erreicht haben, werde ich so schnell reiten, daß du ganz bestimmt nicht lange mithältst.«
»Bist du sicher?« fragte Kiina. »Ich kann reiten, Satai. Auch ohne Sattel.« Ihre linke Hand klatschte auf den Hals des Pferdes, um ihre Worte zu unterstreichen - mit dem Ergebnis, daß das Tier erschrocken scheute und sie um ein Haar abgeworfen hätte. »Nicht so lange wie ich«, antwortete Skar überzeugt. »Und du wirst auch die Kälte nicht so lange aushalten wie ich, und den Hunger. Und ich werde nicht auf dich warten. Verlaß dich nicht auf mein Mitleid.«