»Satai!«
Der Schrei ließ Skar aufsehen. Gegen die zahllosen Feuer, die den Hof beleuchteten, konnte er den Rufer nicht erkennen, aber die Stimme war schrill und gepreßt gewesen und gehörte zweifellos einem Quorrl. Er glaubte Schritte zu hören. Einer der finsteren Schatten bewegte sich auf ihn und Kiina zu.
»Satai! Herr! Wartet!«
Einen Moment lang überlegte Skar, das Gegenteil zu tun und sein Pferd auf der Stelle herumzureißen, um davonzusprengen, so schnell er konnte. Daß er es schließlich doch nicht tat, lag - absurd genug - wahrscheinlich nur daran, daß es ein Quorrl war, der ihn rief; kein Satai.
»Was gibt es?« fragte er unwillig, als der Quorrl herbeigelaufen kam. Der Krieger - er erkannte sein Gesicht nicht, aber er identifizierte seine Rüstung: Es war ein Mann aus Titchs Leibgarde - griff mit der linken Hand nach dem Zaumzeug seines Pferdes und machte mit der anderen eine nervöse Geste in die Richtung, aus der er gekommen war. »Kommt... mit mir, Herr«, stieß er keuchend hervor. Er mußte sehr weit und sehr schnell gelaufen sein, dachte Skar. »Der Hohe Satai verlangt nach Euch. Es ist... wichtig.«
»Was ist passiert?« fragte Skar.
»Ihr sollt... zu ihm kommen, Herr«, antwortete der Quorrl, noch immer mühsam um Atem ringend. »Zur Kammer des Predigers. Schnell!«
Skar starrte ihn noch eine Sekunde unentschlossen an, dann schwang er sich vom Rücken des Pferdes und drückte der vollkommen überraschten Kiina die Zügel in die Hand. »Warte hier«, gebot er. »Ich bin gleich zurück.«
Er rannte los, schon, um mit dem Quorrl Schritt zu halten, der herumgefahren war und den Weg in der gleichen Schnelligkeit zurückzulaufen begann, mit der er hergekommen war. Sie überquerten den Hof, stürmten durch die Halle und begannen, die gewundene Treppe zu Bradburns Kammer hinabzulaufen. Skar hätte den Quorrl gerne gefragt, was denn nun wirklich passiert war - er hatte das sichere Gefühl, daß der Krieger sehr wohl wußte, warum Del ihn zurückrufen ließ, es nur in Kiinas Gegenwart nicht hatte sagen wollen -, aber er lief so schnell, daß Skar alle Mühe hatte, überhaupt mit ihm Schritt zu halten. Erst als sie den Gang erreicht hatten, an dessen Ende Bradburns Kammer lag, blieb er stehen und wich zur Seite, um Skar Platz zu machen. Skar stürmte an ihm vorbei, rannte geduckt durch die Tür - und prallte mitten im Schritt zurück, als wäre er vor eine unsichtbare Mauer gelaufen. Er bemerkte, daß außer ihm und Del auch noch Titch anwesend war, aber daran verschwendete er in diesem Moment kaum mehr als einen Gedanken.
Der Raum lag in Trümmern. Was vor Stunden noch Bradburns Gebetszimmer-Laboratoriums-Kombination gewesen war, das war jetzt ein einziges heilloses Chaos aus zerfetzten Büchern, zertrümmerten Möbeln und Glas- und Tonscherben. Ein durchdringender, sehr unangenehmer Geruch, den Skar nicht identifizieren konnte, lag in der Luft, und auf dem Boden schimmerten große Pfützen der verschiedensten Flüssigkeiten, die aus den zerbrochenen Krügen ausgelaufen waren. An der gegenüberliegenden Wand war ein großer, dunkel glänzender Fleck, wie frischer Ruß. Hatte es gebrannt?
»Bei allen Göttern, was ist passiert?« fragte Skar entsetzt. »Wo ist Bradburn?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Del. Er hob rasch die Hand und hielt Skar zurück, als er an ihm vorbeigehen wollte. »Oder doch, ich fürchte, ich weiß es. Aber das...« Er amtete hörbar ein. »Sieh es dir selbst an.« Er nahm die Hand herunter, legte sie aber gleich darauf auf Skars Schulter und schob ihn vor sich her durch den Raum. Unter ihren Stiefeln knirschte zerbrochenes Glas, überall lagen Trümmer und Teile der zerborstenen Möbel, und einmal stieß Skars Fuß gar gegen einen faustgroßen Steinquader, der wie von einer unglaublichen Gewalt aus der Wand herausgerissen worden war. Skar sah sich neugierig und mit klopfendem Herzen um. Es schien buchstäblich nichts in diesem Raum zu geben, das nicht zermalmt und zerfetzt worden war; es mußten unglaubliche Gewalten gewesen sein, die hier getobt hatten. Aber von Bradburn entdeckte er keine Spur. Nicht einmal Blut.
»Wo ist er?« fragte er erneut.
Del nahm die Hand von seiner Schulter und bückte sich nach der zertrümmerten Tischplatte, die schräg gegen die Wand gestürzt war. Erst, als er sie zur Seite wuchtete, begriff Skar, daß er sie dorthin gestellt hatte, um etwas ganz Bestimmtes zu verbergen.
Im ersten Moment nahm er nur etwas Dunkles, matt Glänzendes wahr, formlos und größer als ein liegender Mann. Neugierig trat er näher, ließ sich in die Hocke hinabsinken und nickte automatisch, als Del eine Bewegung machte, vorsichtig zu sein. Was er sah, war... unheimlich. Bedrückend und auf eine morbide Art faszinierend zugleich. Die sonderbare Masse war formlos und erinnerte ihn im allerersten Moment an schwarzen, blasigen Schaum, wirkte aber gleichzeitig sehr fest und irgendwie ... lebendig.
»Warte«, sagte Del. »Rühr es nicht an.« Skar hörte, wie er sich entfernte und gleich darauf wiederkam. Der flackernde Schein der Fackel vertrieb die Schatten und ließ ihn jede furchtbare Einzelheit des finsteren Dinges genau erkennen.
Es war kein Schaum. Es war ein langgestreckter, massiver Körper, dessen Oberfläche nur blasig und porös aussah. Was er im schlechten Licht dafür gehalten hatte, das entpuppte sich im roten Schein der Fackel als ein Gespinst dünner, tausendfach untereinander verästelter Adern und Nervenfäden, als blicke er ins Innere eines aufgeschnittenen Kadavers. Und es war nicht das erste Mal, daß er so etwas sah.
»Ihr Götter!« stöhnte er. »Das ist -«
»Dasselbe Ding, das die Errish hatten«, vollendete Del. »Das Netz.«
Skar blickte entsetzt auf das schwarze, glänzende Etwas zu seinen Füßen hinab. Eine unsichtbare, eisige Hand schien nach seinem Nacken zu greifen und ganz langsam zuzudrücken, und für Augenblicke hatte er das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Er hörte, wie auch Titch näher kam und unmittelbar hinter ihm stehenblieb, aber es war ihm unmöglich, den Blick von dem grauenhaften Etwas zu lösen. Er wußte, daß Del recht hatte - die feine, auf schreckliche Art lebendig wirkende Struktur war unverkennbar, und er fühlte auch wieder die Aura des Bösen, die er auch in der Nähe der toten Errish gespürt hatte, das Gefühl, etwas abgrundtief Schlechtem gegenüberzustehen. »Aber wie kommt es hierher?« flüsterte er. »Wir haben sie begraben!«
»Nicht alle«, widersprach Titch. »Eine habt ihr hergebracht!«
»Aber sie ist tot!« hielt ihm Skar entgegen. »Bradburn hat sie verbrannt, mitsamt ihrer Rüstung und allem, was sie bei sich hatte!«
»Das habe ich ihm befohlen«, bestätigte Del leise. »Und er hat gesagt, daß er es getan hätte. Aber ich habe es nicht gesehen.« Er ließ sich neben Skar in die Hocke sinken, stützte sich mit der linken Hand auf dem Boden ab - sehr weit von dem schwarzen Etwas entfernt und so, daß er es nicht einmal versehentlich berühren konnte, wenn er das Gleichgewicht verlor und stürzte -, reichte seine Fackel an Skar und zog einen Dolch aus dem Gürtel.
»Rührt es nicht an!« warnte Titch erschrocken.
»Keine Sorge«, beruhigte ihn Del. »Ich bin vorsichtig.«
Und das war er in der Tat. Behutsam, unendlich behutsam näherte sich die Messerspitze dem schwarzen Etwas, berührte es flüchtig und zuckte sofort zurück. Nichts geschah. Del zögerte einen Moment, streckte das Messer dann wieder vor und ritzte einen der dickeren Fäden. Der rasiermesserscharfe Stahl zerschnitt die finstere Masse ohne sichtbaren Widerstand, und Skar sah, daß es sich tatsächlich um eine Art Ader zu handeln schien. Ein Tropfen einer farblosen, wasserklaren Flüssigkeit quoll aus dem abgeschnittenen Ende und erstarrte fast sofort.
»Es scheint... tot zu sein«, murmelte Del.
Skar nickte. »Ich hoffe es. Aber das hat Bradburn sicher auch gedacht. Sei vorsichtig.«