Dels Messer schnitt tiefer. Fünf, zehn der dünnen schwarzen Fäden klafften auseinander, ihre Enden hoben sich wie die Leiber enthaupteter Schlangen, dann schnitt der Stahl durch die darunterliegende, schwarze Masse - und durch menschliches Fleisch. Selbst Titch stöhnte wie unter Schmerzen auf.
»Ihr Götter!« keuchte Del. »Er ist es!« Er hielt einen Moment inne, sah Skar aus schreckgeweiteten Augen an und führte den Dolch dann weiter, wobei er darauf achtete, nur in den schwarzen Kokon zu schneiden, nicht in das, was darunter lag.
Es war Bradburn, und er war unzweifelhaft tot, denn die Wunden, die Del ihm unabsichtlich zufügte, bluteten nicht. Was nicht hieß, daß er nicht verletzt war; im Gegenteil. Überall auf seinem Körper zeigten sich große, blutige Wunden, aus denen dünne schwarze Fäden oder auch fingerdicke Strünke der gleichen, fürchterlichen Masse herauswuchsen, als hätte das Netz versucht, mit brutaler Gewalt in seinen Leib einzudringen. Skar fühlte ein Entsetzen wie niemals zuvor, und auch Del mußte sein schreckliches Tun zwei- oder dreimal unterbrechen, weil seine Hände einfach zu heftig zitterten.
Schließlich reichte Skar seine Fackel an Titch weiter und half Del, aber selbst zu zweit brauchten sie fast fünf Minuten, Bradburn aus dem mörderischen Kokon herauszuschneiden. Trotz allem war das Schicksal noch gnädig mit Bradburn gewesen - einer der glänzenden Fäden verschwand in seinem Mund wie eine schreckliche schwarze Zunge, aber seine Augen waren unverletzt, und zumindest dem Ausdruck auf seinem erstarrten Gesicht nach zu schließen schien er keine sehr großen Schmerzen gehabt zu haben, als er starb.
»Seid vorsichtig!« warnte Titch noch einmal. »Rührt es nicht an!«
»Es ist tot«, versicherte Skar. »Sieh selbst.«
Tatsächlich schien weder in dem Netz noch in dem darunterliegenden schwarzen Kokon noch Leben zu sein - im Gegenteiclass="underline" Auf seiner Innenseite waren große, feuchte Flecken, die Skar an verwesendes Fleisch erinnerten und auch so rochen, und ein Teil der schwarzen Masse war zu porösem Grau geworden, das sich in Staub verwandelte, als Del es mit der Messerspitze berührte. »Es ist tot«, wiederholte er noch einmal. »Es hat ihn umgebracht, aber es ist selbst dabei gestorben.«
»Nein«, verbesserte ihn Del. »Er hat es getötet. Sieh doch.« Er deutete mit der Messerspitze auf Bradburns rechte Hand, und als Skar sich vorbeugte, erkannte er, was Del meinte. Bradburns Hand war völlig frei von der schwarzen Masse, und auch die Fäden, die seinen Arm hinabgekrochen waren, sahen grau aus oder wirkten verdorrt, wie verbranntes Wurzelwerk. Etwas Kleines, Glänzendes blitzte in Bradburns geschlossener Faust. Die Finger des Toten waren noch nicht erstarrt, so daß es Skar leicht fiel, sie mit der Spitze seines Messers auseinanderzubiegen. Erstaunt blickte er auf das herunter, was auf Bradburns ausgestreckter Handfläche zum Vorschein kam: Es war ein kleiner, tropfenförmiger Knopf aus gelblichem Kristall, der von einem unendlich feinen kupfernen Netz umgeben war. Behutsam drehte er ihn mit der Messerspitze ein paarmal herum, um sich davon zu überzeugen, daß ihm auch nicht der kleinste Partikel der schwarzen Masse anhaftete, streckte die Hand aus, um ihn aufzuheben, und zog die Finger dann im letzten Moment wieder zurück. Er sah sich suchend im Zimmer um, gewahrte einen schwarzen Stoffetzen ein Stück hinter sich und wickelte den Kristallstein darin ein, ehe er ihn aus Bradburns Hand nahm. »Was soll das?« fragte Del stirnrunzelnd.
»Das ist der Verschluß der Kristallphiole«, antwortete Skar. »Hast du vergessen, was Bradburn über ihren Inhalt erzählt hat?« Del wurde noch ein bißchen bleicher, als er ohnehin schon war, sagte aber nichts mehr. Skar verstaute den Kristall sorgfältig in einer Tasche seines Gürtels, dann stand er auf. Titch war ein paar Schritte von dem Toten zurückgewichen, und wenn ein Quorrl-Gesicht überhaupt in der Lage war, Entsetzen auszudrücken, dann tat es das seine jetzt. Aber auch Skar spürte eine deutliche Erleichterung, als auch Del sich erhob und sie sich ein paar Schritte von Bradburn und dem fürchterlichen Ding entfernten, das ihn getötet hatte.
»Was ist hier passiert?« fragte Skar leise. Wieder glitt sein Blick durch den Raum, und erneut versuchte er, sich vorzustellen, welche Gewalten diese unvorstellbaren Zerstörungen angerichtet hatten.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Del. »Ich bin hierhergekommen, nachdem du ... gegangen warst. Ich wollte mit Bradburn reden. Aber da war schon alles so, wie du es jetzt siehst.« Er schüttelte den Kopf und schloß die Augen. »Ich kann mir nur vorstellen, daß er einen Teil des Netzes von der toten Errish heruntergeschnitten hat, um damit zu experimentieren.«
»Dieser Narr!« entfuhr es Titch. »Er hätte uns alle umbringen können!«
Skar sah auf. »Wieso?« fragte er. »Weißt du etwas über dieses ... Ding?«
»Nein«, antwortete Titch, eine Spur zu schnell, als daß Skar ihm glaubte. »Aber sieh dich doch um!«
Titch log, und auch Del merkte es. Aber Skar warf ihm einen raschen, mahnenden Blick zu, und Del schluckte die scharfe Antwort hinunter, die ihm auf der Zunge lag.
»Er ist tot, nicht wahr?« sagte Skar. »Wir können ihn kaum mehr zur Verantwortung ziehen.«
»Und auch nicht mehr fragen, was hier geschehen ist«, fügte Del finster hinzu. »Großer Gott, Skar, ich beginne langsam zu glauben, was dieses Mädchen behauptet. Vielleicht ist diese ganze verdammte Burg wirklich nichts anderes als eine Falle.«
Skar wollte antworten, aber im gleichen Moment, in dem er zu Del aufsah, fiel ihm etwas auf; nicht mehr als ein Huschen aus den Augenwinkeln, vielleicht nur ein Schatten, aber vielleicht auch...
Er nahm Titch die Fackel aus der Hand und ging auf die Wand zu, an der er den schwarzen Fleck bemerkt hatte. Seine Schritte waren sehr langsam. Seine Hand, welche die Fackel hielt, zitterte. »Was hast du?« fragte Del alarmiert.
Skar zuckte mit den Schultern und hielt die Fackel höher. Er war nicht sicher, aber für einen winzigen Moment hatte er das Gefühl gehabt, daß sich der Schatten... bewegte.
Es war kein Schatten.
Es war auch kein Rußfleck, wie er im ersten Moment geglaubt hatte.
Es war ein fast mannsgroßer Fleck der gleichen, widerwärtig-schwarzen Masse, die Bradburn erstickt hatte. Haarfeine dünne Äderchen zuckten und pulsierten darin, und hier und da bewegten sich winzige glänzende Klümpchen, kleinen beinlosen Tieren aus schwarzem Schleim gleich, die blind hin und her krochen. Titch keuchte, und Del gab einen angewiderten, würgenden Laut von sich.
Skar senkte zitternd die Fackel, und was er sah, überraschte ihn kaum noch: Der Fleck endete eine Handbreit über dem Boden, aber ein schmaler, glitzernder Streifen der Netzmasse zog sich noch weiter, erreichte den Boden und zog eine schmierige Bahn bis hin zu dem tödlichen Kokon um Bradburn.
Fast eine Minute lang standen sie einfach da und starrten das entsetzliche Etwas an, und schließlich war es Titch, der als erster aus seiner Erstarrung erwachte. Er streckte die Hand aus und sah Skar an, und Skar wußte sofort, was er wollte. Behutsam zog er den Kristallknauf aus dem Gürtel und reichte ihn Titch. Vorsichtig wickelte der Quorrl ihn aus, ergriff ihn mit spitzen Fingern und trat an die Wand. Selbst seine Hand zitterte, als er den Arm ausstreckte und den schwarzen Fleck mit dem spitzen Ende der kristallenen Träne berührte.
Ein leises Zischen war zu hören; ein Laut, als berührte glühendes Eisen Fleisch. Skar sah, wie das filigrane Netz rings um die Stelle herum zu verdorren begann, gegen die Titch den Kristall gepreßt hatte. Und der Prozeß hörte nicht auf, sondern setzte sich rasend schnell fort. Binnen weniger Sekunden ergriff er die gesamte Masse und tötete sie. Die haardünnen Fäden verdorrten, wurden grau und fielen ab oder lösten sich einfach auf.
Aber der Quorrl war noch nicht fertig. Vorsichtig wickelte er den Kristallknopf wieder in sein Tuch, reichte ihn Skar zurück und zog statt dessen sein Schwert aus dem Gürtel. Mit aller Macht holte er aus und schmetterte die Klinge gegen die Wand. Funken stoben auf. Die Spitze von Titchs Schwert brach ab und fiel klirrend zu Boden, aber der Hieb hatte auch eine fast fingertiefe Bresche in die Wand geschlagen.