Skars Herz schien für einen Moment auszusetzen und dann mit doppelter Wucht und fast schmerzhaft weiterzuhämmern. Das Netz war auch hier verdorrt und begann zu Staub zu zerfallen, aber es ging nicht schnell genug, als daß Skar und die beiden anderen nicht das fast mikroskopische Gewebe erkennen konnten, das den Stein durchzog und in seiner Tiefe verschwand. »Großer Gott!« flüsterte Del entsetzt. »Schaut euch das an. Als ob es in die Wand hineingekrochen wäre!«
»Oder heraus«, sagte Titch.
13.
Sie hatten Bradburns Kammer noch einmal und sehr viel gründlicher durchsucht, ohne jedoch eine weitere schreckliche Entdeckung zu machen, und anschließend hatte Del befohlen, Feuer in der Kammer zu legen und es nicht eher erlöschen zu lassen, bis alles darin zu Asche zerfallen war.
Auf dem Weg zurück zu Dels Thronsaal begegnete ihnen Kiina, die sich lautstark und beleidigt darüber beschwerte, daß zwei von Titchs Männern ihr den Zugang zur Burg verwehrt hatten - ganz offensichtlich hatte sie Skar folgen wollen. Skar wollte sie fortschicken, aber Del brachte ihn mit einer befehlenden Geste zum Schweigen und bat Kiina, sie zu begleiten. Das Mädchen gehorchte, sah Skar aber fragend und sehr verwirrt an und versuchte, allein auf dem Weg nach oben drei- oder viermal, ein Gespräch zu beginnen. Skar reagierte nicht darauf; weder mit Blicken noch mit Worten. Er war verwirrt - erschrocken auch, natürlich - aber mehr als alles andere verwirrt. Es gab eine Menge scheinbar überzeugender Erklärungen für das, was er unten in Bradburns Kammer gesehen hatte, und eine schien ihm unangenehmer als die andere, aber da war noch mehr. Nur ein Gefühl, nicht einmal eine Ahnung, und doch die absolute Gewißheit, daß nichts so war, wie es zu sein schien, und die Erklärung in Wirklichkeit vielleicht viel, viel simpler - und schrecklicher -, als sie bisher angenommen hatten. Und zu allem kam das entsetzliche Gefühl, die Wahrheit für einen ganz kurzen Moment erkannt zu haben. Dort unten in der Kammer des Predigers, die zu seinem Grab geworden war, hatte er für einen zeitlosen Augenblick gewußt, was dieses ganze grauenvolle Geschehen bedeutete; und wie es enden würde. Aber der Gedanke war ihm entschlüpft, ehe er danach greifen konnte.
Sie erreichten den Thronsaal. Del schickte die Wachen hinaus, schloß sorgfältig die Tür hinter sich und forderte Skar, Titch und das Mädchen mit Gesten auf, an der langen Tafel Platz zu nehmen. Skar und der Quorrl gehorchten, während Kiina Del nur mit großer Verwirrung anblickte und seiner Aufforderung erst nachkam, als auch Skar ihr aufmunternd zunickte. Auf ihrem Gesicht machte sich ein Ausdruck wachsender Beunruhigung breit. Keiner von ihnen hatte mehr als das Allernotwendigste gesprochen bisher, aber es konnte nicht sehr schwer sein, in ihren Gesichtern zu lesen. Selbst in den Augen des Quorrl nistete die Angst.
»Was habt ihr?« fragte sie schließlich.
Del warf Skar einen mahnenden Blick zu - der Kiina natürlich keineswegs entging - und hob rasch und, wie er meinte, beruhigend die Hand. »Nichts«, sagte er. »Nichts, was dich beunruhigen müßte, jedenfalls. Wirst du uns ein paar Fragen beantworten?«
Seine Stimme hatte einen sonderbar gekünstelten Klang, fand Skar. Aber es dauerte ein paar Augenblicke, bis er begriff, daß es genau der Ton war, in dem Del meinte, mit einem Kind sprechen zu müssen. Natürlich begriff Kiina das auch. Und Kiina wäre nicht Kiina gewesen, wenn sie irgendwie anders als zornig darauf reagiert hätte.
»Vielleicht«, antwortete sie herausfordernd. »Wenn ihr mir zuerst verratet, was hier plötzlich los ist. Wolltest du nicht gehen, Skar? Was ist dort unten bei Bradburn geschehen? Wo ist er überhaupt?«
»Tot«, antwortete Skar, ehe Del Gelegenheit fand, etwas anderes zu sagen. Dels Gesichtsausdruck verfinsterte sich, aber Skar fuhr ungerührt fort: »Ich erzähle dir später alles, Kiina. Aber jetzt beantworte Dels Fragen - bitte.«
»Tot?« wiederholte Kiina fassungslos. Sie hob die Hand, starrte Skar und Del abwechselnd aus großen Augen an und berührte mit den Fingerspitzen ihre Lippen. Dann gab sie sich einen sichtlichen Ruck und wandte sich zu Del um.
»Was... willst du wissen?«
Del schoß einen zornigen Blick in Skars Richtung ab, aber als er weitersprach, klang seine Stimme fast normal. »Erinnerst du dich, was du uns erzählt hast, als du hergekommen bist - Skar, Bradburn und mir? Daß diese Festung eine Falle ist, einzig dazu erbaut, um uns zu vernichten?«
»Natürlich erinnere ich mich«, antwortete Kiina ärgerlich. »Es ist ja erst ein paar Stunden her, oder?«
»Wie hast du das gemeint?« fuhr Del fort.
»Ich habe -« Kiina brach ab, blickte ihn verwirrt an und verzog das Gesicht zu einer Mischung aus Ärger und einem Lächeln. »Aber das habe ich dir und Bradburn doch schon alles erzählt«, sagte sie schließlich. »Und nicht nur einmal.«
»Dann tu es noch einmal«, mischte sich Titch ein. »Ich weiß es nämlich noch nicht.« Der Blick, den er Del bei diesen Worten zuwarf, sprach Bände. Offensichtlich, dachte Skar, hatte Del es bisher nicht unbedingt für nötig befunden, Titch in alles einzuweihen.
Wieder sah Kiina ihn an, ehe sie antwortete, und wieder mußte er nicken, damit sie es tat. Dels Ärger war jetzt beinahe zu hören, aber Skar kostete den kleinen Sieg nur umso mehr aus.
»Etwas Genaues weiß ich auch nicht«, begann Kiina zögernd. »Ich habe... ein paar Gerüchte gehört, ein Wort hier aufgeschnappt, eine Bemerkung da. Ich war nur eine einfache Zofe, nach dem Tod meiner Mutter, und die Errish sprachen selten in meiner Gegenwart oder der der anderen Bediensteten über ihre Pläne.«
»Und was«, fragte Del mühsam beherrscht, »hast du aufgeschnappt?«
»Nicht viel, wie gesagt«, antwortete Kiina. »Es war von euch die Rede. Von dem Hohen Satai und seinem Heer, und von einer großen Anzahl Quorrl. Und von etwas, was geschehen würde, sobald ihr den Ort erreicht habt.«
Nicht nur Skar fiel die Art auf, wie sie das Wort aussprach. »Was meinst du damit, den Ort?« fragte er, das Wort auf die gleiche übertriebene Art betonend, wie sie es getan hatte. »Ich weiß es nicht«, beteuerte Kiina abermals. »Sie haben niemals etwas Konkretes gesagt, Skar. Nur, daß alles vorbereitet sei und daß der...« Sie stockte, starrte einen Moment lang an Skar vorbei gegen die Wand und biß sich auf die Unterlippe. »Ich habe das Wort vergessen«, gestand sie. »Aber daß irgend etwas bereit ist zuzuschlagen, sobald ihr alle hier seid.«
»Hier?« unterbrach sie Titch scharf. »Eben hast du behauptet, du wüßtest nicht, was der Ort ist.«
»Das stimmt auch«, verteidigte sich Kiina. »Aber ich glaube, daß es diese Burg ist. Der Tag stimmt, und -«
»Und diese Burg ist der einzige Ort, an dem dein und unser Heer wirklich zusammen sind«, unterbrach sie Skar, an Titch gewandt. »Sobald die Veden und Dels Satai aus Denwar hier sind, gehen wir über die Berge. Danach teilen wir uns wieder, nicht wahr? Es ist nur logisch.«
Del warf ihm einen warnenden Blick zu. Sie waren überein gekommen, niemals in Gegenwart anderer über ihre Pläne zu sprechen. Nicht einmal die Soldaten draußen auf dem Hof wußten, wohin sich die Heere wenden würden, wenn sie die Berge hinter sich hatten.
»Aber ich weiß nicht, wie sie es tun wollen«, fuhr Kiina fort. »Ich würde es euch sagen, wenn ich es wüßte.«
»Aber das ergibt keinen Sinn!« fuhr Titch auf. »Sie konnten nicht wissen, daß wir uns hier sammeln. Die Heere sollten sich im Lager in der Ebene treffen.«
»Doch«, widersprach Skar. »Sie konnten es wissen, Titch.«