»Diese Burg hat vor Wochenfrist noch Drask und seinen Zauberpriestern gehört!« protestierte der Quorrl.
»Und wir haben nicht einmal eine Nacht gebraucht, um sie zu nehmen«, erwiderte Skar. »Dabei ist die Hälfte unseres Heeres nicht einmal hier. Ich frage mich allmählich, ob wir nicht genau das getan haben, was Drask wollte.« In Wahrheit fragte er sich dies nicht allmählich, sondern schon eine geraume Weile - genaugenommen seit dem Moment, in dem er an Dels Seite durch das Burgtor gestürmt war und gesehen hatte, wie Titchs Quorrl die Wachmannschaften einfach überrannten, schon durch ihre pure Zahl. Die Architektur dieser Burg wirkte auf den ersten Blick genial; einem unkundigen Auge mochte sie wirklich uneinnehmbar erscheinen, schon durch ihre ungeheuerliche Größe. Aber sie war es nicht. Es war beinahe ein Kinderspiel gewesen, sie in die Hand zu bekommen. Skar begann sich zu fragen, ob Drasks Baumeister wirklich so wenig von ihrem Handwerk verstanden. Oder vielleicht mehr, als sie alle bisher angenommen hatten. Er vertrieb den Gedanken, nahm sich aber vor, ihn später noch einmal genauer zu durchleuchten.
»Hast du das so auch Bradburn erzählt?« fragte er Kiina. Das Mädchen nickte. »Natürlich.«
»Mit denselben Worten?« drängte Skar. »Bitte, Kiina - es ist wichtig. Erinnere dich genau. Es ist wichtig.«
Kiina dachte angestrengt nach, aber nach einer Weile nickte sie wieder. »Ich bin sicher. Ich konnte mich nicht auf den Ausdruck besinnen, den sie benutzten, aber ich... ich habe es genauso ausgedrückt wie jetzt, ja. Ganz sicher«, fügte sie hinzu. »Dann ist alles klar«, folgerte Titch. Alle drei sahen überrascht hoch und blickten den Quorrl an, und Titch fuhr mit einer anklagenden Geste auf Kiina fort: »Du hast ihn umgebracht, Menschenjunges, weißt du das?«
»Ich?!« keuchte Kiina.
»Was für ein Unsinn!« rief Del ärgerlich dazwischen. »Sie war nicht einmal in seiner Nähe, als -«
»Er hat das Netz nicht vernichtet«, fuhr Titch ungerührt fort. »Es kann nur so gewesen sein. Er hat die tote Errish und ihre Rüstung verbrannt, genau wie du von ihm verlangt hast, aber er hat etwas von dem Netz zurückbehalten. Bradburn war ein kluger Mann, aber auch sehr wißbegierig. Vielleicht hatte er vor, es später in aller Ruhe und mit der angemessenen Vorsicht zu untersuchen. Und als das Mädchen ihm von dem Etwas erzählte, an dessen Namen sie sich nicht erinnern kann, hat er angefangen zu überlegen.«
»Das ist möglich«, gab Skar ruhig zu. »Aber es muß nicht so gewesen sein, nicht wahr? Ich kann mir zehn andere Erklärungen ausdenken, wenn du willst.«
»Ja«, forderte Titch.
Skar blinzelte verwirrt, und Titch machte eine auffordernde Handbewegung. »Ich will es«, bekräftigte er. »Tu es, Satai.« Skar setzte zu einer wütenden Antwort an, aber Del unterbrach ihn, noch bevor er auch nur ein Wort hervorbringen konnte. »Er hat recht, Skar«, stellte er fest. »Es könnte so gewesen sein. Wahrscheinlich war es sogar so. Was aber nicht heißt«, fügte er, in Kiinas Richtung gewandt, hinzu, »daß du ihn umgebracht hast.« Er lächelte verzeihend. »Titch drückt die Dinge manchmal etwas direkter aus, als gut wäre, Kind. Es war vollkommen richtig, daß du Bradburn und mir alles erzählt hast. Schließlich haben wir dich gefragt.«
Kiina erbleichte noch weiter. Ihre Augen wurden dunkel vor Entsetzen. »Aber dann ... dann ...«
»Dich trifft keine Schuld«, betonte Del noch einmal. »Wenn es so etwas wie Schuld in diesem Fall überhaupt gibt, dann trifft sie allerhöchstens Bradburn selbst. Er hätte wissen müssen, in welche Gefahr er sich begibt.«
»Sich?« Titch lachte böse. »Dieser Narr hätte uns alle umbringen können. Ihr habt gesehen, was dieses ... Ding angerichtet hat!«
Seltsam - aber für einen Moment war Skar vollkommen sicher, daß Titch etwas ganz anderes hatte zum Ausdruck bringen wollen. Er ließ sich nichts anmerken, nahm sich aber vor, in Zukunft noch genauer auf das zu achten, was der Quorrl sagte.
»Erzähl uns mehr von dem Netz«, verlangte Del. »Dem Wächter - so nennt ihr es wohl in Elay?«
Kiina nickte automatisch, aber ihre Antwort war kaum weniger ergiebig als die, welche sie zuvor gegeben hatte. »Ich weiß nicht viel darüber«, bekannte sie. »Es war einfach da, eines Tages. Ich selbst war nicht dabei - niemand, der sich in der Heiligen Halle befand, als es auftauchte, überlebte den Tag.«
»Gestern hast du gesagt, es wäre unaufhörlich gewachsen«, erinnerte Del.
»Das ist es auch«, antwortete Kiina. Sie wirkte nervös. Ihr Blick irrte unstet zwischen Del und Skar hin und her, und Skar wußte, daß sie bald anfangen würde, sich in Widersprüche zu verwickeln und die Dinge durcheinander zu werfen, nicht, weil sie log, sondern einfach, weil sie diese Art eines strengen Verhöres nicht gewohnt war und wie fast jeder Mensch in ihrer Lage das Gefühl haben mußte, angeklagt zu werden. »Das ist es auch«, wiederholte sie. »Es hat sich über... über ganz Elay ausgebreitet, nach und nach. Aber zuerst ist es in den Heiligen Hallen aufgetaucht. Ganz plötzlich. Ich war nicht in der Stadt, aber ich habe es von anderen gehört.«
»Wann genau?« fragte Skar. Ganz plötzlich hatte er wieder das Gefühl, der Lösung ganz nahe zu sein, aber wieder schien sie sich seinem Zugriff wie ein lebendes Wesen zu entziehen, als er danach greifen wollte.
»Wann genau? Ich verstehe nicht -«
»Wann ist es aufgetaucht?« formulierte Skar seine Frage präziser. »Nachdem ihr die Zauberpriester zurückgeschlagen habt, oder bevor sie kamen?«
»Danach«, antwortete Kiina. »Nach ... nach dem letzten Angriff.« Sie blickte ihn nachdenklich an. »Du glaubst, sie hätten es erschaffen?«
»Warum nicht?«
»Aber sie sind Elay nicht einmal nahe gekommen«, antwortete Del an Kiinas Stelle. »Das stimmt doch, oder?«
»Ja«, Kiina nickte übertrieben heftig. »Unsere Drachen haben sie geschlagen, wo immer sie auftauchten. Und jedes Mal vernichtender.«
»Sie sind Zauberer«, erinnerte Skar.
»Unsinn«, entfuhr es Del. »Oder meinetwegen, ja,« verbesserte er sich sogleich. »Aber nicht solche Zauberer. Könnten sie einen Zauber wie dieses Netz erschaffen, über fünfhundert Meilen hinweg, Skar, dann säßen wir nicht hier.«
Ja, dachte Skar. Das stimmt. Es sei denn, nicht sie haben das Netz gewoben, sondern ein anderer. Aber laut sprach er das nicht aus. Das Bild begann sich zu einem Ganzen zu formen, aber das Muster war noch zu unvollständig, um es zu erkennen. Noch nicht.
14.
Sie hatten noch lange geredet; Stunden, ohne zu einem irgendwie gearteten Ergebnis zu gelangen, und schließlich hatte Titch den Vorschlag gemacht, daß sie aufhören und versuchen sollten, noch ein paar Stunden Schlaf zu finden, um das Problem am nächsten Tag mit klarem Kopf noch einmal angehen zu können. Skar war aufgestanden und ohne ein Wort des Abschieds in seine Kammer zurückgegangen, und er war tatsächlich eingeschlafen, kaum, daß er sich auf seinem Lager ausgestreckt hatte.
Aber er schlief nicht sehr lange, und er wachte nicht von selbst auf. Was ihn weckte, war ein Geräusch, von dem er nicht einmal sicher war, ob er es überhaupt wirklich gehört hatte -, und das ungreifbare, aber sehr heftige Empfinden, nicht mehr allein im Zimmer zu sein.
Trotz seiner Erschöpfung waren alle seine Sinne sofort hellwach. Er selbst, sein bewußtes Denken und Überlegen, brauchte noch einige Augenblicke, um sich aus dem Gewirr des Alptraumes zu befreien, den er gehabt hatte, aber es war wie immer, wenn er sich in Gefahr befand - sein Denken schien sonderbar zweigeteilt zu funktionieren: Er fühlte sich noch immer benommen und verwirrt, es fiel ihm im allerersten Moment schwer, sich daran zu erinnern, wo er überhaupt war, und warum. Aber auf einer anderen, tieferen Ebene war er hellwach und angespannt; seine Instinkte waren erwacht, und wahrscheinlich waren auch sie es gewesen, die ihn überhaupt geweckt hatten, die Instinkte eines gejagten, sehr erfahrenen Raubtieres.