»Das ist doch Unsinn«, wandte Skar sanft ein. »Du bist ein vernünftiger Mann, Titch. Laß uns vernünftig miteinander reden.«
»Ich bin vernünftig, Satai«, sagte der Quorrl. »Ich war es niemals mehr. Ich bin ein Krieger, und ich bin dazu geschaffen zu kämpfen. Ich hätte es dabei belassen sollen. Alles wurde falsch, als ich anfing, die Dinge ändern zu wollen. Ich werde dieses Wasser nehmen und an den Ort zurückbringen, an den es gehört, und dann sterben. Ich mußte es dir stehlen.«
»Du hättest mich darum bitten können«, gab Skar ihm zu bedenken. In seiner Stimme war kein Vorwurf. »Ich hätte es dir gegeben.«
»Aber dann hättest du Fragen gestellt«, entgegnete Titch. »Und wenn nicht du, dann dein Freund Del.« Er seufzte. »Ich habe alles falsch gemacht, Satai. Nach Trashs Tod hatte ich die Führung des Heeres allein inne, und ich wollte es richtig machen, aber ich ... ich habe versagt.«
»Weil du es dir selbst erlaubt hast, etwas zu fühlen?« fragte Skar. »Ich bin ein Krieger«, erwiderte Titch. Er versuchte vergeblich, Zorn in seine Stimme zu zwingen. Dann, übergangslos: »Ihr werdet diesen Krieg verlieren, Satai. Ihr und wir, wir werden gemeinsam zugrunde gehen.«
Skar schwieg für eine Weile. Was für ein Narr er doch gewesen war. Er hätte es erkennen müssen, schon vor einem Vierteljahr, als er dem Daij-Djan das erste Mal wieder gegenübergestanden hatte. Spätestens in dem Moment, in dem die Sternenbestie Titchs Bruder getötet hatte. Plötzlich glaubte er, die Worte des riesigen Quorrl noch einmal zu hören, so deutlich, als stünde er hinter ihm und flüstere sie ihm ins Ohr: Sie sind wieder da, Satai! Sie sind wieder da! Was hatte er sich eingebildet? Daß der Dämon ihm allein gehörte? Wer war er, zu glauben, er hätte ein Anrecht auf einen Gott nur für sich allein?
»Erzähl mir vom Daij-Djan«, bat er. »Und von den Wesen hinter dem Ende der Welt.«
»Er ist eine Legende«, begann Titch, verbesserte sich: »War eine Legende. Enwor ist eine Welt, die aus Mythen gewoben ist, und wir Quorrl sind ein besonders abergläubisches Volk -« Er lächelte matt. »- oder werden jedenfalls dafür gehalten, von den meisten. Vielleicht wissen wir auch einfach nur mehr als ihr.«
»Weißt du mehr?«
Titch schüttelte den Kopf. »Nur, was man mir erzählt hat. Ich habe es nicht geglaubt, Skar. Ich bin dir ähnlicher, als du denkst.« Skar blickte überrascht auf, und Titch machte eine erklärende Handbewegung. »Ich weiß viel über dich, Satai. Als ich hörte, daß du Trash erschlagen hast, schwor ich dir den Tod. Dann verriet mir Del, wer du wirklich bist und warum du es getan hast, und ich beschloß, dich am Leben zu lassen, wenigstens für eine Weile. Aber ich erfuhr viel über dich, was du getan hast und wer du bist.« Er lächelte wieder. »Du glaubst nicht an die Götter deines Volkes, nicht wahr?«
»Ich ... weiß es nicht«, gestand Skar.
»Ich war wie du, bis heute«, sagte Titch, seine ausweichende Antwort als Zustimmung wertend. »Ich glaubte nicht an die Götter, und ich glaubte nicht an die Dämonen. Das Schwert und der Verstand waren meine Götter. Aber jetzt weiß ich, daß es sie gibt. Ich habe einen von ihnen gesehen-, Satai.«
»Du meinst, der Daij-Djan ist euer Gott?«
Titch schüttelte den Kopf. »Das Gegenteil. Ihr habt etwas Ähnliches, in eurer Religion. Den -«
»Teufel«, half Skar nach, als der Quorrl das passende Wort nicht gleich fand.
»Den Teufel«, bestätigte Titch. »Der Daij-Djan ist unser Teufel, Mensch. Und die Ultha sind seine Dämonen. Und jetzt sind sie lebendig geworden.« Er sprach nicht weiter, aber das wenige, was er gesagt hatte, genügte vollauf, Skar abermals bis ins Innerste zu erschüttern. Er versuchte sich vorzustellen, was Titch in diesem Moment empfinden mochte, aber konnte es nicht. Was hätte er gefühlt, umgekehrt? Was, dachte er, wenn es so gewesen wäre, daß ein Heer von Satai den Quorrl zu Hilfe geeilt wäre - und sich keinem Feind aus Fleisch und Blut, sondern dem leibhaftigen Satan gegenübergesehen hätte?
»Was wirst du jetzt tun?« fragte er, nach einer weiteren langen, langen Zeit des Schweigens.
Titch zuckte mit den Schultern. »Was wirst du mich tun lassen?« fragte er dagegen.
»Was immer du willst«, antwortete Skar, und er meinte es so. Titch blickte ihn ungläubig an, und Skar las seine Gedanken von seinem Gesicht ab und schüttelte den Kopf. »Ich werde niemandem erzählen, was hier geschehen ist«, versicherte er. »Ich schwöre es dir, Titch. Niemandem. Und ich werde auch über das Wasser des Lebens schweigen.«
Titch nickte. »Dann tue ich, was getan werden muß«, entschied er. »Ich werde versuchen, es zurückzubringen. Es ist ein weiter Weg, aber vielleicht habe ich die Kraft dazu.«
»Jetzt gleich?« fragte Skar.
»Warum nicht?«
»Weil...« Skar brach ab, schwieg sekundenlang. Sein Blick löste sich von Titchs flachem Quorrl-Gesicht und glitt über den Leichnam der Errish, den toten Drachenvogel und die Reste der bizarren Rüstung, die sie getragen hatte. »Weil ich dich begleiten möchte«, sagte er schließlich.
Titch war überrascht. »Du? Kein menschliches Wesen darf das Land der Toten betreten.«
»Und kein Quorrl«, fügte Skar hinzu. »Und trotzdem willst du es versuchen.«
»Das ist etwas anderes«, widersprach Titch. »Ich habe einen Grund, der mehr wiegt als mein Leben. Das Überleben meines Volkes.«
»So wie ich.« Skar deutete auf die Daktyle und ihre tote Reiterin. »Dels Weg ist falsch«, erklärte er ruhig. »Das da ist die Lösung, Titch. Ich hätte es längst erkennen müssen. Drask hat es mir gesagt, und Kiina ebenfalls, aber ich war blind und taub.«
Titch verstand was er meinte. »Es sind unsere Dämonen, die lebendig geworden sind«, stellte er fest.
»Und diese Errish kam aus eurem Land, um die Rettung zu bringen«, ergänzte Skar. »Die Lösung liegt dort, Titch. Nicht hier. Nicht in Ikne oder im Land der Zauberpriester. Drask und seine Brüder sind nur Werkzeuge, mehr nicht. Wenn es einen Weg gibt, diesen wahnsinnigen Krieg zu beenden, dann nur in deinem Land. Aber ich finde den Weg nicht allein.«
Einen Moment lang glaubte Skar fast, Titch würde zustimmen. Aber dann schüttelte der Quorrl statt dessen den Kopf. »Kein Mensch hat jemals unsere Wälder betreten, Satai. Sie würden dich töten.«
»Das ist ein geringer Preis für die Rettung meiner Welt, findest du nicht?«
Diesmal dauerte es sehr lange, bis der Quorrl antwortete. »Morgen«, sagte er leise.
»Bei Sonnenaufgang«, fügte Skar hinzu.
17.
Sie hatten noch lange miteinander geredet, und sie hatten noch länger gebraucht, um zur Burg zurückzukehren. Trotzdem war das Heer nicht merklich näher gekommen, als Skar sich unter dem Tor ein letztes Mal umdrehte und nach Westen sah - es bedeckte die Schnee-Ebene jenseits des Flusses jetzt wie ein schwarzer Ausschlag, und so weit der Blick nur reichte, aber seine Spitze war nicht sichtbar näher gekommen. Sie trennten sich. Titch ging zu seinen Leuten zurück, um die Räumung der Burg zu überwachen, die er angekündigt hatte, und alles Notwendige für seinen Aufbruch zu regeln - er würde einen Nachfolger bestimmen und tausend Dinge regeln müssen, aber das war nur gut so. Skar war sich bis zuletzt nicht sicher, ob der Quorrl seine Bitte erfüllen und seine Begleitung akzeptieren würde, und er wußte, daß Titchs Krise noch lange nicht vorüber war. Das Geschehen draußen zwischen den Felsen hatte den Quorrl bis ins Innerste erschüttert, und es würde noch lange dauern, bis er den Schock überwand; wenn überhaupt. Irgendwann würde er anfangen, daran zu zweifeln, daß es richtig war, einen Menschen mit ins Allerheiligste der Quorrl zu nehmen. Und Skar wollte möglichst weit von hier weg sein, wenn dieser Moment kam. Er nahm sich vor, Titch bis zu ihrer Abreise unauffällig im Auge zu behalten und ihn - wenn nötig - so beschäftigt zu halten, daß ihm keine Zeit zum Nachdenken blieb.