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Sie führten Irene durch Straßen, die sie auch sehenden Auges nicht gekannt hätte. Es waren abgelegene, in der frühen Morgenstunde noch entvölkerte Straßen, sonst wäre die Gefangene mit den verbundenen Augen jemandem aufgefallen.

Dann ging es in ein Haus, das stark nach Alkohol, Tabak, Parfüm und menschlichen Ausdünstungen roch. Es mußte ein großes Haus sein. Durch Gänge und über Treppen dauerte es eine Weile, bis man sie in den engen, dunklen Raum sperrte.

Hier nahm man ihr die Binde ab, was wegen der völligen Finsternis nicht viel änderte.

Das letzte, was sie sah, bevor sich die Tür schloß, war das grinsende Rattengesicht des Mannes, der sich ihr als Carl Dilgers Freund Louis Bremer vorgestellt hatte. Höhnisch wünschte er ihr einen angenehmen Aufenthalt.

Dann entfernten sich seine Schritte und die seiner Begleiter polternd und knarrend über eine Treppe.

Jamie begann zu weinen. Die Dunkelheit schien ihn zu ängstigen. Sie drückte ihn an sich, streichelte ihn sanft und sprach ihm Worte eines Trostes zu, den sie selbst gut hätte gebrauchen können.

So saßen sie eine ganze Weile auf dem Boden ihres Gefängnisses, Mutter und Kind, als seien sie ganz allein auf der Welt. Bis ein Kratzen und Klacken verkündete, daß ein Schlüssel herumgedreht wurde.

In der Tür des Verlieses. Aber Irene hatte niemanden kommen hören!

Die Tür wurde aufgestoßen.

Als das plötzlich einfallende Licht ihre daran nicht mehr gewöhnten Augen blendete, zog die junge Frau sich ängstlich in den hintersten Winkel zurück. Sie rutschte über den Boden und hielt dabei Jamie noch fester als zuvor.

Ein Rechteck aus Helligkeit füllte die Türöffnung aus. Ein großer Schatten trat in diese Helligkeit und linderte die Stärke des Lichts.

Irenes Augen gewöhnten sich wieder ans Sehen.

Der Mann, den sie erblickte, war groß, knochig und schwarz. Ein Neger. Das Fehlen einer Kopfbedeckung offenbarte seinen völlig kahlen Schädel.

Aber sonst war der Mann so gut gekleidet, wie sie es selten bei einem Schwarzen gesehen hatte. Der taubengraue Dreiteilige, der seinen hünenhaften Körper einzwängte, und die schwarzweiß gelackten Schuhe ließen ihn fast wie einen Stutzer wirken.

Doch sein unbewegliches, hartes Gesicht verriet, daß er alles andere als ein Prahler war. Das einzige, was sich in dem Gesicht bewegte, waren die wachsamen, kalten Augen.

Am liebsten hätte sich die junge Frau noch weiter verkrochen, als der unheimliche Schwarze in den vollkommen nackten Raum trat. Aber sie hockte schon in der hintersten Ecke. Und es gab kein einziges Einrichtungsstück, hinter dem sie Schutz hätte suchen können. So konnte sie nur auf dem Boden bleiben und zu dem dunklen Gesicht aufschauen, das hart wie Granit wirkte.

Der Neger streckte eine große Hand vor, außen schwarz, innen dagegen seltsam weiß. Seine kräftigen Finger hielten ein längliches schwarzes Tuch, ähnlich der Augenbinde, die sie vor kurzem noch getragen hatte. Ihr war sofort klar, was die Geste bedeuten sollte.

Zögernd stand sie auf und drehte sich mit dem Gesicht zur Wand. Da bedeckte das Tuch schon ihre Augen. Der Neger verknotete es so fest an ihrem Hinterkopf, daß es weh tat. Dann packte er sie am Arm und führte sie hinaus.

Wäre nicht seine fest zupackende Hand gewesen, die Irene leitete, hätte sie geglaubt, ihr Bewacher sei nicht mehr da. Er ging so lautlos wie eine Katze auf ihren weichen Pfoten.

Das Ganze hatte etwas Unheimliches an sich. Um so mehr, da der Schwarze nicht einen Ton sagte.

Er brachte sie in einen anderen Raum. Dort ließ er die Frau los, nahm ihr aber die Binde nicht ab. Sie hörte ihn nicht, aber er war noch im Raum. Das leise Atmen verriet es ihr.

Erst mit der Zeit merkte sie, daß außer ihr und Jamie mindestens zwei andere Menschen anwesend waren. Doch keiner von ihnen sagte ein Wort.

Weshalb nicht?

Was wollten sie von der Frau mit den verbundenen Augen?

Sie fand keine Antwort.

Doch ihre Angst wuchs ins Unermeßliche. Eisige Schauer liefen über ihren Rücken.

Jamie wurde unruhig. Er quengelte. Seine kleinen Händchen tasteten über das Gesicht der Mutter, das wegen der schwarzen Binde fremd und furchteinflößend wirkte.

Irene hielt den Sohn im rechten Arm. Ihre Linke fuhr an die Binde, zögerte aber, sie abzunehmen.

»Die Hand runter!« zischte eine Männerstimme in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.

Die Frau gehorchte umgehend.

»Brav«, lobte die Stimme, als beurteile sie das anerzogene Verhalten eines Hundes oder Pferdes. »Wenn Sie keine Schwierigkeiten machen, Fräulein Sommer, wird Ihnen nichts geschehen. Und Ihrem Kind auch nicht!«

Die Drohung in den Worten war unüberhörbar. Sie heizte Irenes Furcht weiter an.

Zu der Angst gesellte sich Verwunderung.

Darüber, daß der unbekannte Fremde ihren Namen kannte.

Und darüber, daß er deutsch sprach.

»Wer. wer sind Sie?« fragte Irene zögernd.

»Ich frage, Sie antworten, Irene!«

Irene!

Daß der Unbekannte sie mit ihrem Vornamen ansprach, verlieh seinen Worten eine seltsame Vertrautheit.

Als würden sie sich kennen.

Aber das war es nicht allein.

Diese Stimme!

Irene glaubte, sie schon einmal gehört zu haben.

Kannte sie den Mann tatsächlich?

Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, fragte er: »Was suchen Sie in San Francisco?«

»Wir sind gestern hier angekommen.«

»Warum?«

»Ich suche meinen. meinen Verlobten.«

Offiziell waren sie gar nicht verlobt. Aber da sie sich das Eheversprechen gegeben hatten, kam es dem gleich.

»Carl Dilger?« fragte die seltsam vertraute Stimme.

»Ja, Carl. Ich habe gehört, er sucht in Kalifornien nach Gold.«

»Und Ihr Freund Jacob Adler, was will er hier?«

»Er begleitet mich und meinen Sohn.«

»Ah, er spielt also immer noch den barmherzigen Samariter.«

Sarkasmus schwang in diesen Worten mit, aber auch Verachtung und Haß.

Der unheimliche Fremde kannte sie also beide.

Doch woher?

»Und der andere, dieser Bauer, Martin Bauer - was ist mit ihm?«

Er kennt uns alle! durchfuhr es Irene.

Plötzlich glaubte sie zu wissen, mit wem sie es zu tun hatte. Anfangs war sie nicht darauf gekommen, weil sie den Mann für tot hielt.

Aber konnte das sein?

Er?

War er denn nicht gestorben?

Vor ihren eigenen Augen!

»Ich habe Sie nach Martin Bauer gefragt!« ermahnte sie der Mann. »Ist er auch in Frisco?«

»In Frisco?« Irene schüttelte den Kopf. »Nein, er ist in Oregon geblieben. Er hat sich dort niedergelassen.«

»In Oregon also«, brummte er leise und fuhr lauter fort: »Sie scheinen ja weit herumgekommen zu sein. Bei Gelegenheit müssen Sie mir davon erzählen. Jetzt muß ich mich um andere Dinge kümmern. Da das Schicksal so freundlich war, uns wieder zusammenzuführen, muß ich die Gunst der Stunde nutzen.«

»Sind Sie es?« fragte Irene und nannte den Namen des Mannes, den sie bis zu dieser Stunde für tot gehalten hatte.

»Ein Name ist Schall und Rauch, umnebelnd Himmelsglut, meine Gute, das wissen Sie doch.« Der Mann sprach mit einem meckernden Lachen. »Aber nein, verzeihen Sie. Ein Dienstmädchen hat natürlich nicht den Faust gelesen.«

Irene überging die scharfe Spitze. Sie war bedeutungslos gegenüber ihrer Sorge.

Wenn ihre Vermutung hinsichtlich der Identität ihres Gegenübers stimmte, schwebten sie alle in höchster Gefahr: Jamie, sie selbst und Jacob.

Jacob!

Was war mit dem Freund, der tief in ihrem Herzen noch viel mehr war als ein bloßer Freund, geschehen?