Es war neun Uhr zwanzig Minuten, da wies Huelcar plötzlich mit dem Arm nach Westen hin.
»Dort… der Leuchtthurm von Key West,« rief er.
Wirklich lag Key West in dieser Richtung kaum vier Meilen (6∙4 Kilometer) von hier entfernt. Wäre die Nacht klar gewesen, so hätte man sein Leuchtfeuer rechtzeitig peilen können und die Goelette wäre nicht zwischen diesen gefährlichen Klippen gescheitert.
Die Gewässer bei Niederflorida stehen bei den Seeleuten allgemein in üblem Rufe, und es erscheint sehr wünschenswerth, daß die Bundesregierung einen schon allseitig erwogenen Plan zur Ausführung bringe, die Anlage eines Canals, der die Halbinsel zwischen Ferdinandina und Cedar West durchschnitte. Dieser Canal würde vielen Schiffern zwischen dem Meerbusen von Mexico und dem Oceane gegen fünfhundert Meilen (800 Kilometer) Fahrt durch eine der schwierigsten Meerengen der Erde ersparen.
Für den sechsten Partner im Match Hypperbone schien das Spiel unter den vorliegenden Umständen wohl so gut wie verloren. Er hatte ja kein Mittel zur Hand, über die letzte Wasserfläche von dem Eiland aus, auf dem die »Chicola« zu Grunde gegangen war, hinweg zu gelangen, und mußte hier also einfach warten, bis zufällig ein Boot vorüberkam, das die Schiffbrüchigen nach Key West beförderte.
Eine traurige Lage für die armen Leute, hier auf diesem einem Beinhause ähnlichen Haufen weißer Felsblöcke zu sitzen, die kaum fünf bis sechs Fuß über das Wasser bei Hochfluth emporragten. Rings um sie schwammen neben vielfarbigem Beerentang riesige Phyceen und kleinere Algen umher, die der mächtige Golfstrom vom Meeresgrunde abgerissen hatte.
In den Buchten wimmelte es von hunderterlei Fischarten jeder Größe und Gestalt; da tummelten sich Sprotten, Rochen, Lippfische, Wolfsbarsche, Elephtiken von wunderbarer Färbung, Silberfische und Karpfenforellen mit bunten Ringstreifen umher, und dazwischen schlichen noch Mollusken, große und kleine Garneelen, Krebse, Hummern, Krabben und Langusten hin.
Von allen Seiten schwammen freilich auch, durch den Schiffbruch angelockt, zwischen den Klippen gefräßige Haifische heran, vorzüglich jene sechs bis sieben Fuß langen Hammerfische mit ungeheuerem Rachen, die auch für Menschen sehr gefährlich sind.
Sie et warteten den Commodore Urrican… (S. 220.)
Vögel schwärmten in zahllosen Scharen umher, wie graue und Silberreiher, Krabbentaucher, Möven, Steißsüßer und Cormorans. Einige große, halb im Wasser stehende Pelikane fischten mit ebensoviel Ernst aber größerem Erfolge wie menschliche Fischer und schrien dazu mit »Höhlenstimme«, wie ein französischer Reisender sich ausgedrückt hat, ihr widerliches »Hornkorr« hinaus. Von allem, was hätte zum Essen dienen können, fand sich auf der Klippe nichts als Unmassen von Schildkröten, die man im Wasser selbst oder auf dem da und dort vorhandenen schmalen Strande hätte erlegen können.
Inzwischen verstrich die Zeit, doch trotz der Pflege, an der man es ihm nicht fehlen ließ, schien der unglückliche Commodore nicht wieder zu sich kommen zu wollen. Die Fortdauer dieses Zustandes versetzte Turk in die größte Unruhe. Hätte er seinen Herrn nach Key West schaffen und ihn dort einem Arzte übergeben können, so wäre dieser, bei seiner kräftigen Seemannsnatur, wahrscheinlich gerettet worden.
Leider konnten jedoch noch so manche Tage vergehen, ehe sich den Schiffbrüchigen Gelegenheit bot, das Eiland zu verlassen, denn die Goelette war unmöglich wieder flott zu machen, da ihr Boden eingeschlagen war, und jedenfalls zerstreute der nächste Sturm ihre Trümmer nach allen Seiten.
Selbstverständlich überließ sich Turk gar keiner falschen Hoffnung mehr über den möglichen Ausgang des Match Hypperbone. Für Hodge Urrican war die Partie verloren. Wie mußte er zornig aufbrausen, wenn ihm das Bewußtsein zurückkehrte, und diesmal hätte man ihm, gegenüber einem so abscheulichen Unglück, das wohl verzeihen können.
Es war ein wenig über zehn Uhr, als einer der Matrosen der »Chicola«, der auf den äußersten Felsstücken Ausguck hielt, einen Ausruf hören ließ.
»Ein Boot… ein Boot!« rief er laut.
In der That näherte sich, von einem leichten Ostwinde getrieben, ein Fischerboot dem Eilande.
Sofort gab Huelcar ein Signal, das von den Leuten im Boote bemerkt wurde, und eine halbe Stunde später steuerte dieses mit den Schiffbrüchigen schon auf Key West zu.
Jetzt dämmerte in Turk wieder ein Hoffnungsschimmer auf, und vielleicht hätte auch Hodge Urrican wieder zu hoffen angefangen, wenn er jetzt aus dieser Umnachtung erwacht wäre, die ihn für alle äußeren Vorgänge unempfindlich machte.
Von der Brise begünstigt, legte das Boot die vier Meilen recht schnell zurück, und ein Viertel auf zwölf lag es schon vor Anker im Hafen.
Die auf der zwei Lieues (7∙8 Kilometer) langen und halb so breiten Insel Key West gelegene Stadt ist ebenso emporgewachsen, wie etwa Pflanzen bei intensivster Cultur in die Höhe schießen. Sie bildet schon ein ziemlich bedeutendes Gemeinwesen, das durch Telegraphenlinien mit den übrigen Staaten des Bundes und mit Havanna durch ein Unterseekabel in Verbindung steht. Der Stadt winkt noch eine große Zukunft, sie wächst auffallend schnell, dank einem Schiffsverkehre, der jährlich bereits dreihunderttausend Tonnen erreicht. Uebrigens gewähren ihre dunklen Haine von Magnolien und anderen prächtigen Gewächsen der Tropenzone einen höchst anmuthigen Anblick.
Das Boot hatte kaum im Hintergrunde des Hafens angelegt, da sammelten sich schon – Key West hatte jener Zeit achtzehntausend Einwohner – einige hundert Leute um die Schiffbrüchigen. Sie erwarteten den Commodore Urrican – und in welch traurigem Zustande zeigte er sich jetzt ihren Augen!
Offenbar war das Meer kein Freund der Partner des Match Hypperbone – denn Tom Crabbe war in Texas als willenlose Masse eingetroffen und der Commodore hier als Leiche, oder doch nahezu als solche, angelangt.
Hodge Urrican wurde nach einem Bureau des Hafens geschafft, wo ein Arzt ihm die erste Hilfe angedeihen ließ.
Der Bewußtlose athmete noch, und wenn sein Herz auch nur sehr leise schlug, so schien er doch keine Verletzung innerer Organe erlitten zu haben. Als er aus der Goelette gestürzt war, hatte er freilich durch das Aufschlagen an eine Felskante einen Schädelbruch davongetragen und viel Blut verloren, so daß die Annahme einer Gehirnverletzung nicht ausgeschlossen war.
Trotz der größten Sorgfalt, trotz der kräftigsten Massierung, die Turk – und man kann sich wohl vorstellen, mit welchem Eifer – ausführte, kam der Commodore, obwohl er zwei-oder dreimal schwach aufseufzte, doch noch nicht wieder zur Besinnung.
Der Arzt empfahl nun, ihn nach dem Zimmer eines guten Hôtels zu schaffen, wenn man nicht vorzöge, ihn dem Krankenhause von Key West zu übergeben, wo er besser als irgendwo anders gepflegt werden könnte.
»Nein, erklärte Turk bestimmt, weder ins Krankenhaus, noch in ein Hôtel…
– Wohin denn?
– Nach dem Postamte!«
Dem wackeren Turk war ein Gedanke gekommen, ein Gedanke, den alle Anwesenden begriffen und für richtig hielten. Da Hodge Urrican heute am 25. Mai noch des Vormittags – und gegen Wind und Fluth, konnte man sagen – in Key West angekommen war, erschien es ja geboten, daß seine Anwesenheit an dem Orte, wo er am genannten Datum sein sollte, auch officiell bestätigt würde.
Man besorgte also eine Tragbahre, legte eine Matratze darüber und streckte den Commodore vorsichtig darauf aus. Dann setzte sich der Zug, von einer immer anwachsenden Volksmenge begleitet, langsam in Bewegung.
Die Postbeamten erstaunten nicht wenig über den Anblick, der sich ihnen darbot, und glaubten an einen Irrthum. Hielten die Leute das Postgebäude denn für ein Leichenschauhaus?… Als sie aber hörten, daß der regungslose Körper der des Commodore Urrican, eines der Partner im Match Hypperbone sei, da verwandelte sich ihr Erstaunen in eine Art mitleidiger Rührung. Er war also doch zur Stelle, hier vor dem Telegraphenschalter, wohin ihn die fünf und vier Augen der Würfel aus so großer Ferne verwiesen hatten… doch in welch bejammernswerthem Zustande!