Es war jetzt neun Uhr morgens und somit fehlten noch drei Stunden bis zu dem Augenblicke, wo Titbury im Postamte erscheinen mußte. Beim Thee und kalten Braten ihres Frühstücks beschäftigten sich die Ehegatten auch damit, über ihre Geldverhältnisse ins Reine zu kommen.
»Wieviel haben wir seit unserer Abfahrt von Chicago schon ausgegeben? fragte der Gatte.
– Achtundachtzig Dollars und siebenunddreißig Cents, antwortete die Gattin.
Da las sie denn mit immer schwächer werdender Stimme… (S. 267.)
– Wirklich… so viel?…
– Und dabei haben wir unterwegs kein Geld zum Fenster hinausgeworfen.«
Wer kein Titbury’sches Blut in den Adern hatte, hätte im Gegentheil erstaunen müssen, daß die bisherigen Ausgaben nicht mehr betrugen. Dazu kamen freilich noch die dreihundert Dollars Strafgelder, womit der der Titbury’schen Casse widerfahrene Aderlaß schon zu einem recht ausgiebigen wurde.
»Und wenn uns die Depesche, die wir von Chicago erhalten sollen, nur nicht etwa verpflichtet, nach dem anderen Ende des Landes zu reisen! seufzte Herr Titbury.
– Wir müßten uns aber doch dazu entschließen, erklärte Frau Titbury mit Entschiedenheit.
– Ich verzichtete lieber auf die ganze Geschichte…
– Schon wieder! rief die rechthaberische Matrone. Ich rathe Dir, lass’ es das letztemal sein, daß Du davon sprichst, auf die Aussicht, sechzig Millionen Dollars zu gewinnen, voreilig zu verzichten!«
Endlich vergingen die drei Stunden, und zwanzig Minuten vor zwölf Uhr stellte sich das Ehepaar im Schalterraume des Postamtes ein und wartete hier ungeduldig der Dinge, die da kommen sollten. Außer den beiden Titburys hatte sich kaum ein halbes Dutzend Neugieriger mit hier eingefunden.
Welcher Unterschied gegenüber dem Andrange zur Zeit, wo die anderen Partner zu gleichem Zwecke in Fort Riley, in Austin, in Santa-Fé, in Milwaukee und in Key West vor den Schaltern der Telegraphenbureaus standen!
»Ein Telegramm für Herrn Hermann Titbury aus Chicago,« rief jetzt der Beamte.
Die angerufene Persönlichkeit erblaßte in dem Augenblicke, wo sich ihr weiteres Schicksal entscheiden sollte. Die Beine des Mannes knickten zusammen und seine Zunge unterlag einer Halblähmung, so daß er augenblicklich nicht sprechen konnte.
»Hier! antwortete Frau Titbury, die ihren Mann an den Schultern schüttelte.
– Das ist der berechtigte Empfänger dieser Depesche? fragte der Beamte.
– Das will ich meinen!… Ob er es ist! rief Frau Titbury.
– Ob ich es bin! meldete sich endlich der dritte Partner. Erkundigen Sie sich nur bei dem Richter Ordak!… Es hat mir schon mehr als genug gekostet, mich wegen meiner Identität nicht weiter drangsalieren zu lassen!«
In dieser Beziehung konnte also kein Zweifel obwalten. Das Telegramm wurde daraufhin der Frau Titbury ausgehändigt und von dieser erbrochen, denn der zitternden Hand ihres Mannes wäre das unmöglich gewesen.
Da las sie denn mit immer schwächer werdender Stimme, die bei den letzten Worten fast ganz versagte:
»Hermann Titbury, zwei Augen durch eins und eins. Great Salt Lake City, Utah. Tornbrock.«
Das Ehepaar wurde durch die schlecht verhehlten Spötteleien der übrigen Anwesenden beinahe ohnmächtig. Sie mußten sich auf einer Bank des Vorraumes niederlassen.
Das erstemal durch eins und eins nach dem zweiten Felde tief im Staate Maine geschickt zu sein, und das zweitemal, wieder durch eins und eins, nach dem vierten Felde im fernen Utah gehen zu sollen… vier Augen durch zweimaliges Würfeln… das war doch gar zu arg! Und obendrein sollten die Pechvögel, die sich zuerst von Chicago nach dem einen Ende der Union begeben hatten, nun fast deren anderes Ende im fernen Westen aufsuchen!
Nach einigen Minuten gewiß verzeihlicher Schwäche raffte Frau Titbury sich wieder auf, wurde wieder das entschlossene Mannweib, das die Zügel führte, packte ihren Gatten am Arme und schleppte ihn nach dem Gasthause Sandy Bar.
Nein, das war doch ein gar zu ausgesprochenes Pech! Welchen Vorsprung hatten schon die anderen Partner, Tom Crabbe, Max Real, Harris T. Kymbale und Lissy Wag, vom Commodore Urrican ganz zu schweigen! Sie flogen wie Hafen übers Feld, und sie… sie krochen wie Schnecken dahin!… Zu den Tausenden von Meilen zwischen Chicago und Calais kamen nun für sie wiederum zweitausendzweihundert Meilen, die Strecke von Calais bis zur Great Salt Lake City…
Entschlossen sich die Titburys jetzt nicht zum Austritt aus dem Match, so durften sie sich, wollten sie in Chicago einige Tage rasten, in Calais nicht länger aufhalten, da ihnen, sich nach Utah zu begeben, nur der Zeitraum vom 19. Mai bis zum 2. Juni zur Verfügung stand. Und da Frau Titbury nicht zustimmte, die Partie aufzugeben, verließ das Ehepaar Calais noch am nämlichen Tage mit dem ersten geeigneten Zuge, begleitet von den Glückwünschen der ganzen Einwohnerschaft für… für die anderen Partner.
Nach einem solchen Unglück sank der Curs des dritten Partners, wenn dieser überhaupt einen gehabt hatte, jedenfalls auf einen lächerlich tiefen Stand hinunter. Die blaue Flagge wurde nicht mehr zur »Classe« gerechnet; sie konnte unmöglich »placiert« werden.
Das unglückselige Paar brauchte sich über den jetzt einzuschlagenden Reiseweg nicht erst den Kopf zu zerbrechen, denn das war derselbe, auf dem sie nach Maine gekommen waren. In Chicago angelangt, standen ihnen dann die Züge der Union Pacific zur Verfügung, die über Omaha, Granger und Ogden nach der Hauptstadt von Utah laufen.
Am Nachmittage wurde die kleine Stadt befreit von der Gegenwart der wenig sympathischen Leute, die hier eine so traurige Rolle gespielt hatten Man hoffte, daß die Wechselfälle des Edlen Vereinigte Staatenspiels sie nicht noch einmal hierher verschlügen, und sie selbst hegten natürlich denselben Wunsch.
Nach achtundvierzig Stunden trafen die beiden Titburys in Chicago ein; sie fühlten sich aber recht erschöpft von den Anstrengungen der Reise, denen ihr Alter nicht mehr recht gewachsen war und die ihrer Lebensgewohnheit ganz und gar nicht entsprachen. Sie mußten sich sogar einige Tage ausschließlich in ihrem Hause in der Robey Street aufhalten. Herr Titbury hatte nämlich gerade einen Anfall von Rheumatismus der Fünfzigjährigen erlitten, den er gewöhnlich mittels… Nichtbeachtung behandelte – eine billige Behandlungsweise, die seines filzigen Geizes würdig war.
Jetzt versagten ihm aber die Beine thatsächlich den Dienst, so daß er vom Bahnhofe nach seinem Hause geschafft werden mußte.
Selbstverständlich verkündeten die Zeitungen sein Eintreffen. Die Berichterstatter der »Staatszeitung«, die bisher etwas auf ihn gehalten hatten, machten ihm auch einen Besuch. Als sie ihn aber in so elendem Zustande antrafen, verlor er selbst bei ihnen an Werth, und in den Wettagenturen gab es für ihn keine Nehmer, nicht einmal zum Satze von sieben zu eins.
Dabei rechnete man freilich ohne Kate Titbury, die hier die erste Geige spielte und das auch handgreiflich bewies. Sie behandelte den Rheumatismus ihres Mannes nicht mit Nichtbeachtung, sondern mit Gewalt. Unterstützt von ihrem Drachen von Dienstmädchen frottierte sie den Rheumatiker mit solcher Kraft, daß dieser darüber fast die Haut von den Beinen einbüßte. Kein Pferd, kein Maulesel war je so energisch gestriegelt worden. Es bedarf natürlich keiner Erwähnung, daß hier weder ein Arzt noch ein Apotheker etwas drein zu reden hatte, und vielleicht befand sich der Patient darum um so besser.
Kurz, dieser Zwischenfall führte nur eine Verzögerung von vier Tagen herbei. Am 23. waren alle Anstalten zur Weiterreise getroffen. Dazu mußten dem Geldschranke freilich einige Tausenddollarsscheine entnommen werden, und am Morgen des 24. machten sich Mann und Frau wieder auf den Weg, obwohl sie noch reichlich Zeit hatten, die Mormonenstadt bis zum nächsten entscheidenden Termin zu erreichen.
Die Eisenbahn von hier geht nämlich direct nach Omaha; von diesem Punkte aus schließt sich die bis Ogden reichende Union Pacific an und dehnt ihre Geleise unter dem Namen Southern Pacific bis San Francisco aus.