Alles in allem erschien es noch als ein Glück, daß das Titbury’sche Ehepaar nicht nach Californien gewiesen worden war, denn die Reise dahin wäre noch um tausend Meilen länger gewesen.
Am Nachmittage des 28. kamen sie in Ogden an – eine wichtige Station, von der sich eine Nebenlinie nach Great Salt Lake City abzweigt.
Hier kam es zu einem Zusammenstoß – doch nicht etwa zwischen zwei Zügen – sondern zwischen zweien der Partner, einem Zusammentreffen, das recht eigenthümliche Folgen haben sollte.
An jenem Nachmittage war nämlich Max Real auf dem Rückwege vom Nationalpark ebenfalls in Ogden eingetroffen. Von hier wollte er sich am nächsten Tage, dem 29., nach Cheyenne begeben, um dort den Ausfall des dritten, ihm geltenden Würfelns zu erfahren. Als er da seelenvergnügt auf dem Bahnsteige des Stationsgebäudes umherwandelte, sah er sich plötzlich Auge in Auge jenem Titbury gegenüber, mit dem er den Leichenzug William I. Hypperbone’s begleitet und während der Verlesung des Testamentes des excentrischen Verstorbenen auf der Bühne des Auditoriums gesessen hatte.
Diesmal hatte sich das Paar weislich gehütet, unter angenommenem Namen zu reisen; es wollte sich nicht wieder Unannehmlichkeiten, wie den in Calais erlebten, aussetzen. Wenn die Ehegatten es auch unterließen, sich unterwegs erkennen zu geben, so wollten sie wenigstens in dem von ihnen zu wählenden Hôtel von Great Salt Lake City den richtigen Namen ins Fremdenbuch eintragen. Es erschien ihnen ja unnütz, unterwegs schon als die zukünftigen Erben von sechzig Millionen aufzutreten, und es genügte gewiß, wenn sie das erst in der Hauptstadt von Utah bekannten, wo Titbury, wenn man ihn daraufhin etwa auszubeuten versuchte, sich schon vertheidigen zu können hoffte.
Nun vergegenwärtige man sich die unangenehme Ueberraschung der blauen Flagge, als diese sich in Gegenwart zahlreicher, dem Zuge entstiegener Personen von der violetten Flagge plötzlich anrufen hörte.
»Wenn ich nicht ganz irre, ist das ja Herr Hermann Titbury aus Chicago, mein Mitbewerber im Match Hypperbone, den ich vor mir zu sehen die Ehre habe?…«
Das Ehepaar erzitterte wie Espenlaub. Offenbar höchst verlegen, zum Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit zu werden, drehte sich Titbury einfach um, als könne er sich nicht im mindesten erinnern, den lästigen Menschen jemals gesehen zu haben, obgleich er ihn übrigens recht wohl erkannte.
»Ich weiß nicht, mein Herr… antwortete er, haben Sie Ihre Worte etwa zufällig an mich gerichtet?…
– Ah, bitte um Verzeihung, erwiderte der junge Maler, es ist aber doch ganz unmöglich, daß ich mich täuschen sollte. Wir waren zusammen bei dem weltberühmten Begräbniß… ich bin Max Real… der zuerst abgereist war…
– Max Real?…« wiederholte Frau Titbury, als ob sie diesen Namen zum erstenmale nennen hörte.
Der junge Mann fing an, etwas ungeduldig zu werden. »Was da, mein Herr, sind Sie Herr Hermann Titbury aus Chicago oder sind Sie es nicht?
– Wie kommen Sie dazu, erhielt er in scharfem Tone zur Antwort, sich anzumaßen, mich hier ausfragen zu wollen?
– Ah, in dieser Weise fassen Sie meine Worte auf! sagte Max Real, indem er den Hut wieder auf den Kopf stülpte. Sie wollen Herr Titbury nicht sein, nicht einer der Sieben, nicht der, der zuerst nach Maine und dann nach Utah geschickt wurde. Na, meinetwegen, das ist ja Ihre Sache. Ich bin und bleibe aber Max Real, der aus Kansas und aus Wyoming zurückkehrte! Im übrigen… Guten Abend!«
Da der Zug nach Cheyenne sogleich abgehen sollte, sprang er mit Tommy in einen der Wagen und ließ das Ehepaar verdutzt stehen, das seinem Ingrimm über die Taugenichtse von Künstlern nach Belieben Luft machen mochte.
In diesem Augenblick näherte sich ein Herr, der dem kleinen Auftritte mit sichtlichem Interesse gefolgt war. Das etwas gesucht gekleidete, ungefähr vierzigjährige Individuum hatte so offene Gesichtszüge, daß auch der Argwöhnischeste zu ihm Vertrauen fassen mußte.
»Das war ja, begann er mit einer Verbeugung gegen Frau Titbury, ein recht ungezogener Mensch, der für seine Rücksichtslosigkeit einen derben Denkzettel verdient hätte. Ich mußte nur an mich halten, mich nicht in Dinge zu mischen, die mich nichts angingen…
– Ich danke Ihnen, mein Herr, antwortete Titbury, geschmeichelt, sich von einem so vornehmen Herrn vertheidigt zu sehen.
– Doch, bitte sagen Sie mir, fuhr der vornehme Unbekannte fort, war das wirklich Ihr Partner Max Real?…
– Ich glaube, er war es, erwiderte Titbury, obgleich ich ihn kaum kenne.
– Nun, setzte der Fremde hinzu, ich wünsche ihm alles mögliche Mißgeschick, weil er sich unterstanden hat, so hochachtbare Personen wie Sie mit solcher Rücksichtslosigkeit öffentlich anzusprechen, und an Ihnen, mein Herr, ist es nun, jenen – und natürlich auch alle übrigen – in der Partie gründlich zu besiegen!«
Es hätte einer ein ganz ungebildeter Tropf sein müssen, die guten Wünsche eines so höflichen, so zuvorkommenden Herrn nicht freundlich aufzunehmen, die Theilnahme eines Gentlemans, der sich für den Erfolg des Herrn und der Frau Titbury so sichtlich interessierte, abzulehnen.
Wer war denn der Mann?… Ein gewisser Robert Inglis aus Great Salt Lake City, der am nämlichen Tage dahin zurückkehren wollte, ein Handelsagent, der von dem Lande, das er viele Jahre nach allen Seiten bereist hatte, gründliche Kenntniß hatte. Nachdem er seinen Namen und Beruf genannt hatte, erbot er sich sehr höflich, das Titbury’sche Ehepaar zu führen und ihm auch ein passendes Hôtel nachzuweisen.
Wie hätten sie die guten Dienste des Herrn Robert Inglis abweisen sollen, zumal da dieser erklärte, daß er eine große Summe auf den Sieg des dritten Partners gesetzt habe. Er ergriff das Handgepäck der Frau Titbury und brachte es in einen der Waggons, die nach Ogden abgehen sollten. Herr Titbury fühlte sich sehr angenehm berührt, vorzüglich auch, weil Herr Robert Inglis den Galgenstrick von Maler gern nach Gebühr behandelt gesehen hätte. Im übrigen konnte er sich nur beglückwünschen, einen so liebenswürdigen Reisegenossen, der ihm auch in der Hauptstadt von Utah als Führer dienen wollte, so unerwartet gefunden zu haben.
Alles ließ sich also aufs beste an. Die Reisenden nahmen zusammen in einem Waggon Platz, und niemals war ihnen die Zeit so schnell vergangen, wie bei dieser, freilich nur fünfzig Meilen (80 Kilometer) langen Fahrt.
Herr Inglis war ebenso interessant wie unerschöpflich. Der vortrefflichen Dame schien es vorzüglich zu gefallen, daß er das dreiundvierzigste Kind einer Mormonenfamilie war, wohl zu merken, vor der Zeit, wo der Präsident der Vereinigten Staaten die Vielweiberei gesetzlich verboten hatte.
Das darf nicht wundernehmen, da z.B. der Apostel Herbert Kimball, der erste Kirchenrath, bei seinem Ableben dreizehn Frauen und vierundfünfzig Kinder hinterlassen hatte. Hoffen wir nur, daß der Berichterstatter der »Tribune«, Harris T. Kymbale, wenn ihn der Zufall je nach Utah verschlug, sich an seinem Namensvetter kein Beispiel nehmen möchte. Uebrigens schreiben sich beide Namen ja nicht gleich, und außerdem ist es in Great Salt Lake City verboten, Polygame zu sein, selbst wenn man ein »Korangläubiger« wäre.
Wenn die Unterhaltung den Titburys gefiel, lag es daran, daß man sich einen liebenswürdigeren Erzähler als Herrn Inglis gar nicht denken konnte. Offenbar wünschte er die Zeit zurück, wo die Mormonenkirche noch in vollem Glanze strahlte. Er pries die Vorzüge dieser Religion, der »besten«, die durch »den Geist Gottes« je offenbart worden sei. Er sprach von Joseph Smith, der 1830 seinen Prophetenberuf erkannte, die goldenen Tafeln mit den göttlichen Gesetzen des Mormonismus entdeckte und der später unter ruchloser Mörderhand endete. Er schilderte greifbar den Auszug der »Heiligen der letzten Tage«, die zuerst in New York, dann in Illinois, später in Ohio und endlich in Missouri gesiedelt hatten. Dann verbreitete er sich mit tiefempfundenen, begeisterten Worten über Brigham Young, den Papst und Vorsitzenden der Kirche, der, allen Mühen, allen Gefahren trotzend, die Gemeinde in die Nachbarschaft des Großen Salzsees führte und hier 1847 Neu-Jerusalem gründete.