Verdiente die heilige Stadt denn nicht diesen Namen ebenso wie den Namen Jordan der Fluß, an dessen Ufern sie, etwa zehn Meilen (16 Kilometer) vom Salzsee, erbaut ist? Zur Zeit seiner Blüthe zählte der Staat ja nicht weniger als hundertfünfundvierzigtausend Gläubige, von denen heute freilich der größte Theil nach einem ihnen von Mexiko überlassenen Gebiete ausgewandert ist. Die Verfolgungen wurden nämlich immer schlimmer, denn die Bundesregierung – Herr Inglis äußerte sich darüber freilich nicht – erkannte recht wohl, daß Utah mehr darauf ausging, ganz unabhängig zu werden, als gerade nach den Regeln des Mormonismus zu leben. Darum ließ der General Grant 1871 auch den Papst und die Apostel der Kirche verhaften, stellte das alte Land der Utahs wieder unter die Verwaltungsbehörden der Union und untersagte gleichzeitig im Namen der öffentlichen Moral die Polygamie, selbst wo diese sich nur auf eine Doppelehe beschränkte.
Jetzt wird das Neue Zion durch das Fort Douglas in Schach gehalten, das die Bundesregierung drei Meilen (5 Kilometer) östlich von der. Stadt errichten ließ, um diese zur Einhaltung der Gesetze der nordamerikanischen Republik zu nöthigen.
»Hier kommt niemand hinaus!« (S. 277.)
»O, werthe Freunde, rief Robert Inglis in so ergreifendem Tone, daß er den Augen der Frau Titbury Thränen entlockte, hätten Sie nur Brigham Young gekannt, ihn, unseren hochverehrten Papst mit dem üppigen Haar, dem melierten, Wangen und Kinn umrahmenden Barte und mit seinen Luchsaugen, und George Smith, den Vetter des Papstes und Geschichtschreiber der Kirche, ferner Hunter, den Oberbischof, sowie Orson Hyde, den Vorsitzenden der zwölf Apostel, Daniel Wels, den zweiten Rath, und Elisa Snow, eine der geistigen Frauen des Papstes…
– War sie hübsch? fragte sofort Frau Titbury.
– Abscheulich häßlich, Madame, doch was kommt es bei einer Frau auf Schönheit an?…«
Frau Titbury ließ auf diese Bemerkung ein leichtes Lächeln der Zustimmung sehen.
»In welchem Alter steht denn jetzt der berühmte Brigham Young? erkundigte sich Herr Titbury.
– In gar keinem, weil er todt ist. Wenn er aber heute noch lebte, wär’ er hundertzwei Jahre alt.
– Und Sie, mein Herr, begann Frau Titbury etwas zögernd, sind Sie auch verheiratet?
– Ich… geehrte Frau?… Wozu soll man denn heiraten, wenn die Polygamie abgeschafft ist? Mit einer einzigen Frau hat man mehr Noth als mit fünfzig!«
Inglis lachte unbefangen über seine schlagfertige Antwort und das Ehepaar theilte seine Heiterkeit.
Das Gebiet, das die Zweiglinie von Ogden her durchschneidet, ist flach und dürr, mit sandigem und thonigem Boden, der alkalische Salze enthält, die ihn, ganz wie die große Wüste im Westen des Sees, mit weißlichen Krystallgebilden bedecken. Hier gedeiht weiter nichts als Thymian, Salbei, Rosmarin neben wildem Buschwerk und große Mengen von gelben Sonnenrosen. Im fernen Osten davon erheben sich Hügelketten, die von den nebeligen Gipfeln der Wahsatchberge überragt werden.
Genau halb acht Uhr hielt der Zug im Bahnhofe von Great Salt Lake City.
Eine prächtige Stadt, hatte Robert Inglis gesagt, und sicherlich ließ er seine neuen Bekannten nicht eher weiterreisen, als bis sie sie besucht hatten – eine Stadt von fünfzigtausend Einwohnern – er übertrieb hiermit um fünftausend – eine prächtige Stadt, im Osten umrahmt von prächtigen Höhenzügen und durch den prächtigen Jordan in bequemer Verbindung mit dem prächtigen Salzsee, eine vor allen anderen gesunde Stadt mit ihren in dichtem Grün versteckten Häusern und Villen, ihren Weinbergen und mit ihren Obstgärten mit Apfel-, Birnen-, Aprikosen-und Pflaumenbäumen, die die schönsten Früchte der Erde liefern. Und längs der Straßen prächtige Läden, steinerne Gebäude von prächtigem Aussehen! Hierzu kommen noch ihre Monumentalbauten, prächtige Muster mormonischer Architektur, die prächtige »Residenz«, wo Brigham Young einst wohnte, der prächtige Mormonentempel, das prächtige Tabernakel, ein Wunderwerk der Holzbaukunst, worin achttausend Gläubige Platz finden. Und was gab es früher für prächtige Ceremonien, wenn der Papst und die Apostel auf einer prächtigen Tribüne saßen und rund umher eine gläubige Gemeinde, Männer, Frauen und wer weiß wie viele Kinder, die der Vorlesung der von der prächtigen Hand Mormon’s selbst geschriebenen Bibel lauschten! Kurz, hier war nach des Herrn Inglis Aussage alles »prächtig«.
In Wahrheit ließ sich der gute Mann indeß durch seinen Localpatriotismus zu arger Uebertreibung verleiten. Der Stadt am Großen Salzsee gebühren keine solchen Lobpreisungen. Für ihre Volkszahl ist sie zu ausgedehnt, und wenn sie einige natürliche Schönheiten besitzt, so weist sie doch keinerlei künstliche auf. Das berühmte Tabernakel ist in Wahrheit nur ein ungeheuerer Kasseroldeckel, der flach auf die Erde gelegt ist.
Jedenfalls konnte nicht davon die Rede sein, Great Salt Lake City noch am heutigen Abend zu besichtigen; zunächst galt es ja, ein Hôtel aufzusuchen, und da es Titbury darauf ankam, eines mit sehr mäßigen Preisen zu wählen, schlug sein Führer das außerhalb der Stadt gelegene Cheap Hotel (früher Hôtel du bon marché) vor.
Schon dieser Name allein verführte und beruhigte das Ehepaar. Ihr Gepäck ließen sie auf dem Bahnhofe zurück, um es holen zu lassen, wenn das Cheap Hotel ihnen gefiele, und folgten dem Herrn Inglis, der den Handkoffer und die Reisedecke der »vortrefflichen, hochachtbaren Dame« mit Gewalt hatte selbst tragen wollen.
Der Weg führte durch die niedriger gelegenen Theile der Stadt, von der die Titburys bei der schon herrschenden tiefen Dunkelheit nichts sehen konnten, hinunter nach dem rechten Ufer eines Flusses, nach der Angabe des Herrn Inglis des Crescent River, und zog sich etwa drei Meilen (fünf Kilometer) weit hin.
Die Titburys mochten ihn wohl etwas lang finden; in der Erwartung aber, daß das Hôtel um so billiger sein werde, je weiter es von der Stadt läge, fiel es ihnen gar nicht ein, sich darüber zu beklagen.
Halb neun Uhr endlich und, wegen des bedeckten Himmels, in vollständiger Finsterniß langten die Reisenden vor einem Hause an, dessen Aussehen sie jetzt nicht zu beurtheilen vermochten.
Bald darauf führte sie der Gastwirth – ein Mann mit recht wildem Gesichtsausdruck – in ein Zimmer des Erdgeschosses, das weiß ausgetüncht und nur mit einem Bett, einem Tische und zwei Stühlen ausgestattet war. Das genügte ihnen jedoch vollständig, und sie bedankten sich noch bei Herrn Inglis, der sich mit dem Versprechen, sie am kommenden Morgen abzuholen, verabschiedete.
Sehr ermüdet, und nachdem sie etwas von den in der Reisetasche mitgeführten Mundvorräthen verzehrt hatten, legten sich Herr und Frau Titbury zu Bett. Bald Seite an Seite eingeschlafen, träumten sie davon, daß die Vorhersage des freundlichen Herrn Inglis in Erfüllung ging und sie durch den Ausfall des nächsten Würfelns um zwanzig Felder vorwärts kämen.
Sie erwachten nach erquickender Ruhe erst gegen acht Uhr und erhoben sich langsam, da sie ja nichts anderes vorhatten, als ihren Führer zu erwarten, um mit ihm die Stadt zu besuchen. Die Neugierde trieb sie dazu freilich nicht im geringsten, doch glaubten sie, das Anerbieten des Herrn Inglis, ihnen die Merkwürdigkeiten der großen Mormonenstadt zu zeigen, nicht abschlagen zu dürfen.
Um neun Uhr war noch niemand da. Fertig zum Ausgehen, sahen Herr und Frau Titbury zum Fenster hinaus, das nach der Landstraße vor dem Cheap Hotel zu lag.
Diese Straße, so hatte ihnen ihr zuvorkommender Cicerone gesagt, war die alte »Emigrants road«, die sich am Crescent River hinzog. Hier rollten einst die großen Frachtwagen mit allerlei Waaren hin, die nach den Lagern der Pionniere bestimmt waren und die der Bull-waker (der Ochsentreiber) führte… zu jener Zeit, wo man noch mehrere Monate brauchte, von New York aus die westlichen Gebiete der Union zu erreichen.