Handelt es sich darum, durch eine Stadt dritten oder vierten Ranges, also durch eine von beschränktem Umfang, zu wandern, so ist das ja in wenigen Stunden abzumachen. Das gilt aber nicht für ein städtisches Gemeinwesen, das unter Einrechnung der Vororte Manaynak, Germanstown, Camden und Gloucester nicht weniger als zweimalhunderttausend Häuser und elfhunderttausend Seelen zählt. Schräg von Nordosten nach Südwesten und dem Bett des Delaware folgend, hat Philadelphia eine Längsausdehnung von sechs Meilen (9∙6 Kilometer) und eine Oberfläche, die beinahe der Londons gleichkommt. Das erklärt sich vor allem durch die Gewohnheit der meisten Philadelphier, Einzelhäuser zu bewohnen, während Riesenbauten mit Hunderten von Miethbewohnern, wie in Chicago und New York, hier höchst selten sind. Es ist die Stadt des »home« par excellence.
Die Metropole ist wirklich sehr groß, doch auch glänzend, offen und lustig, regelmäßig gebaut und hat mehrere Hauptstraßen von hundert Fuß (30∙5 Meter) Breite. Die Vorderseiten ihrer Häuser bestehen aus Backsteinen und Marmor. Schattenkühle Gänge, die noch aus dem Anfang der sylvanischen Epoche des Landes bis in die Gegenwart herübergerettet worden sind, zieren sie ebenso wie prachtvolle Gartenanlagen, Squares und Parke, darunter der Fairmount-Park, der größte von allen in den Vereinigten Staaten, ein Stück Land von zwölfhundert Hektaren am Rande des Schuylkill, dessen Schluchten noch in ihrer alten Wildheit erhalten geblieben sind.
Im Laufe dieses ersten Tages konnte John Milner natürlich nur einen Theil der Stadt – es war der am rechten Delawareuser – besuchen, er begab sich dann wieder nach ihrem westlichen Theile, immer längs des Schuylkill, eines Nebenflusses des Stromes, der von Nordwesten nach Südosten verläuft. Auf der anderen Seite des Delaware liegt New Jersey, einer der kleinen Unionsstaaten, zu dem die Vororte Camden und Gloucester gehören, die wegen Mangels an Brücken mit der großen Stadt nur mittels Dampffähren in Verbindung stehen.
John Milner kam heute also nicht nach dem Mittelpunkte der Stadt, von dem die großen Verkehrsadern rund um das Rathhaus ausstrahlen, jenes gewaltige Bauwerk aus weißem Marmor, das viele Millionen Dollars gekostet hat und dessen Thurm nach seiner Vollendung in der lustigen Höhe von fast sechshundert Fuß (182 Meter, der Kölner Dom ist 155 Meter hoch) die Kolossalstatue William Penn’s tragen wird.
Wenn John Milner während seines Aufenthaltes in Philadelphia auch nicht umhin konnte, die Merkwürdigkeiten der Stadt wenigstens zu sehen, so kam ihm doch sicherlich nicht der Gedanke, sie auch zu besuchen. Unter den vielen Sehenswürdigkeiten nennen wir hier nur das Arsenal, die Schiffswerften auf League Island, einer Insel im Delaware, das aus Alleghanymarmor errichtete Zollgebäude, die Münze, in der noch jetzt alles Metallgeld der Föderativrepublik geschlagen wird, das Seehospital, das in der Independance Hall – wo die Willenserklärung von 1776 unterzeichnet wurde – untergebrachte naturhistorische Museum, das Grand College mit korinthischer Architektur, worin Hunderte von Waisenkindern verpflegt werden, ferner die Universitätsbauten, die Akademie der Naturwissenschaften mit ihren kostbaren Sammlungen, den Botanischen Garten, einen der schönsten und reichhaltigsten in der Union, und endlich die zweihundertsechzig Kirchen und die sechs Quäkertempel dieser alten und berühmten Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Amerika.
John Milner war ja nicht hierhergekommen, um Philadelphia kennen zu lernen. Niemand erwartete von ihm, wie von Max Real oder Harris T. Kymbale, neue Gemälde oder Zeitungsberichte. Er hatte nur die Aufgabe, Tom Crabbe dahin zu geleiten, wohin er sich nach dem letzten Würfelfalle begeben mußte. Dagegen beabsichtigte er, diese Reise zu einer wirksamen Reclame für Tom Crabbe auszunutzen, im Fall daß dieser, wenn er die sechzig Millionen Dollars nicht gewann, seinen Beruf als Boxer weiter zu betreiben hätte.
An Liebhabern dieses rohen Sportzweiges konnte es in Philadelphia nicht fehlen. Hier gab es Hunderttausende von Arbeitern in Erzbergwerken, Maschinenfabriken, Raffinerien, chemischen Fabriken, Teppich-und Stoffwebereien – solcher Etablissements giebt es über sechstausend – außer den Arbeitern im Hafen, wo Kohlen, Petroleum, Getreide und Erzeugnisse jeder Art ausgeführt werden und dessen Handelsumsatz nur von dem New Yorks übertroffen wird.
Hier in dieser Welt, wo man körperliche Eigenschaften höher als geistige schätzte, mußte Tom Crabbe wohl in seinem wahren Werthe erkannt werden. Uebrigens finden sich auch unter den anderen, den sogenannten höheren Gesellschaftsclassen noch Herren, die einen regelrechten Faustschlag ins Gesicht und die Ausrenkung eines Unterkiefers recht gut zu schätzen wissen.
John Milner überzeugte sich zu seiner großen Befriedigung, daß der Markt der Market Street von Philadelphia, der einer der ausgedehntesten in allen fünf Erdtheilen sein soll, jetzt nicht von einer Thierschau mit Vertheilung von Preisen eingenommen war. Sein Begleiter hatte hier also keinen Rivalen zu fürchten, wie in dem abscheulichen Spring Grove Cincinnatis, und die indigoblaue Flagge würde sich diesmal nicht vor der Majestät eines riesigen Schweines zu senken haben.
John Milner fühlte sich hierüber auch schon von Anfang an beruhigt. Die Zeitungen Philadelphias hatten in wortreichen Artikeln angekündigt, daß der Staat Pennsylvanien in nächster Zeit, d. h. in den vierzehn Tagen zwischen dem 31. Mai und dem 14. Juni, das Eintreffen des zweiten Partners zu gewärtigen habe. Sofort hatten die Wettagenturen ihr Werk begonnen, die Mäkler sich bemüht, die Kreise der Spieler für Tom Crabbe zu erwärmen, indem sie darauf hinwiesen, daß er allen seinen Mitbewerbern voraus sei, und ausrechneten, daß es für ihn zur Erreichung des Zieles nur zweier glücklicher Würfe bedürfe u. s. w. u. s. w.
Welch ein Hochgenuß wär’ es aber am nächsten Tage, als Tom Crabbe von seinem Traineur durch die belebtesten Straßen der Stadt spazieren geführt wurde, erst für den Boxer gewesen, wenn dieser hätte… lesen können!
Ueberall riesige Maueranschläge, freilich von ähnlicher Art, wie die, die das Riesenschwein von Cincinnati betrafen, mit dem Namen des zweiten Partners in fußhohen Buchstaben, die von Ausrufungszeichen wie von einer Leibgarde begleitet waren – ohne von den Flugblättern zu reden, die von den Vertretern der Agenturen mit lauter Stimme angeboten und an jedermann vertheilt wurden.
Tom Crabbe! Tom Crabbe!! Tom Crabbe!!!
Der berühmte Tom Crabbe, der Champion der Neuen Welt!
Tom Crabbe, der Fitzsimons und Corbett glänzend besiegt hat!!
Tom Crabbe, der auch Real, Kymbale, Titbury, Lissy Wag, Hodge Urrican und X. K. Z. schlagen wird!!!
Der große Favorit im Match Hypperbone!!! Tom Crabbe, der den ersten Platz behauptet!!!
Tom Crabbe, der nur noch sechzehn Felder vom Ziele entfernt ist!!!
Mitten in seiner Freude traf John Milner ein ihn fast lähmender Schlag. (S. 362.)
Tom Crabbe, der die indigoblaue Flagge auf den Berghöhen von Illinois aufpflanzen wird!!!
Tom Crabbe weilt in unseren Mauern!!!
Hurrah! Hurrah!! Hurrah für den großen Tom Crabbe!!!
Selbstverständlich antworteten andere Agenturen, die nicht zu Gunsten des zweiten Partners eintraten, mit anderen Placaten, die nicht weniger von Ausrufungszeichen strotzten und Crabbe’s Farben die Max Real’s und Harris T. Kymbale’s gegenüberstellten. Die übrigen Partner, Lissy Wag, der Commodore und Hermann Titbury wurden schon als außer Mitbewerb gesetzt betrachtet.
Da ist es wohl begreiflich, welcher Stolz John Milner erfüllen mußte, als er sein »Wunderthier« durch die Straßen von Philadelphia, über die Hauptplätze, die Squares, nach dem Fairmount-Park und auch nach dem Markte der Market Street geleitete. Welche Entschädigung für die in Cincinnati erlittene Beschimpfung!… Welches Unterpfand des schließlichen Erfolges!