»Was ist mit der Frau?« wiederholte Nate.
»Ich habe gefragt. Sie antworten nicht.«
»Was heißt das?«
»Ich bin nicht sicher. Ich vermute, dass sie hier ist, aber sie rücken aus irgendeinem Grund nicht mit der Sprache heraus.«
»Und warum nicht?«
Jevy verzog das Gesicht und sah beiseite. Woher sollte er das wissen?
Sie redeten noch ein wenig miteinander, dann brachen die Indianer auf- zuerst die Männer, dann die Frauen und zum Schluss die Kinder. Im Gänsemarsch zogen sie der Ansiedlung entgegen, bis man nichts mehr von ihnen sah.
»Haben Sie sie verärgert?«
»Nein. Sie wollen irgendeine Versammlung einberufen.«
»Glauben Sie, dass die Frau hier ist?«
»Ich denke schon.« Jevy machte es sich im Boot bequem und wollte ein Nickerchen halten. Es war fast eins, ganz gleich in welcher Zeitzone sie sich befinden mochten. Zum Mittagessen hatte es nicht mal einen aufgeweichten Salzkeks gegeben.
Gegen drei durften sie sich auf den Weg machen. Eine kleine Gruppe junger Männer führte sie vom Fluss über den Pfad zum Dorf, zwischen den Hütten hindurch, vor denen alle Bewohner reglos standen und sie beobachteten, dann weiter in den Wald.
Wenn das mal kein Todesmarsch ist, dachte Nate. Die bringen uns bestimmt zu irgendeinem steinzeitlichen Blutopfer in den Urwald. Er folgte Jevy, der zuversichtlich vorausschritt. »Wohin zum Teufel bringen die uns?« zischte Nate wie ein Kriegsgefangener, der seine Wächter aufzubringen fürchtete.
»Nur die Ruhe.«
Der Wald öffnete sich zu einer Lichtung, und sie sahen, dass sie wieder in der Nähe des Flusses waren. Unvermittelt blieb der Anführer stehen und machte eine Handbewegung. Am Rande des Wassers räkelte sich eine Anakonda in der Sonne. Das Tier war schwarz und trug an der Unterseite eine gelbe Zeichnung. An der dicksten Stelle betrug der Durchmesser seines Rumpfes mindestens dreißig Zentimeter. »Wie lang ist sie?« fragte Nate. »Sechs oder sieben Meter. Endlich haben Sie eine Anakonda gesehen«, sagte Jevy.
Nate zitterten die Knie, und sein Mund war wie ausgedörrt. Der Anblick eines so langen und kräftigen Exemplars war wahrhaft eindrucksvoll. Über diese Schlangen hatte er Witze gerissen.
»Manche Indianer verehren sie als Gottheiten«, sagte Jevy.
Und was tun dann unsere Missionare hier? überlegte Nate. Er nahm sich vor, Rachel nach diesem Kult zu fragen. Die Moskitos schienen es ausschließlich auf ihn abgesehen zu haben. Die Indianer waren offensichtlich immun gegen die Quälgeister, und Jevy schlug nicht ein einziges Mal nach ihnen. Immer wieder fuhr Nates Hand klatschend auf seine Haut, und immer wieder kratzte er, bis es blutete. Das Insektenschutzmittel lag im Boot, zusammen mit dem Zelt, dem Haumesser und allem anderen, was im Augenblick seine Habe ausmachte. Zweifellos wurde sie gerade ausführlich von den Kindern begutachtet.
Während der ersten halben Stunde erschien ihm der Marsch als Abenteuer, dann stumpften ihn die Hitze und die Insekten ab. » Wie weit müssen wir noch ?« fragte Nate, ohne eine genaue Antwort zu erwarten.
Jevy sagte etwas zu dem Mann an der Spitze und übersetzte dessen Antwort. »Nicht weit.« Sie überquerten einen Pfad, dann einen breiteren Weg. In der Gegend schienen die Leute ziemlich viel herumzulaufen. Schon bald sahen sie die erste Hütte, dann rochen sie Rauch.
Zweihundert Meter von der Ansiedlung entfernt wies der Anführer auf eine schattige Stelle nahe dem Fluss.
Nate und Jevy wurden zu einer Bank geführt, die man aus miteinander verbundenen hohlen Bambußtäben hergestellt hatte. Dort blieben sie, von zwei Indianern bewacht, während die anderen im Dorf Meldung machten.
Nach einer Weile wurden die Wächter müde, lehnten sich an einen Baumstamm und schliefen bald tief und fest. »Ich vermute, dass wir fliehen könnten«, sagte Nate.
»Wohin?«
»Haben Sie Hunger?«
»Eigentlich schon. Und Sie?«
»Nein, ich bin bis oben hin satt«, sagte Nate. »Immerhin hab ich vor neun Stunden sieben dünne Kekse gegessen. Vergessen Sie nicht, mich daran zu erinnern, dass ich Welly einen Klaps gebe, wenn ich ihn sehe.«
»Ich hoffe, es geht ihm gut.«
»Warum sollte es ihm nicht gut gehen? Er ist in Sicherheit, trinkt frisch gebrühten Kaffee und liegt mit vollem Magen schön trocken in meiner Hängematte.«
Vermutlich hätten die Männer sie keinesfalls so weit geführt, wenn nicht Rachel in der Nähe wäre. Während Nate auf der Bank saß und den Blick auf die Hütten in der Ferne gerichtet hielt, deren oberste Spitzen man sah, gingen ihm viele Fragen über diese Frau durch den Kopf. Wie sie wohl außehen mochte? Von ihrer Mutter hatte es geheißen, dass sie eine Schönheit gewesen war. Troy Phelan hatte ein Auge für Frauen gehabt. Was sie wohl trug? Die Ipicas, denen sie Gottes Wort bringen wollte, gingen nackt. Wie lange war sie schon nicht mehr in der zivilisierten Welt gewesen? War er der erste Amerikaner, der je in dieses Dorf kam?
Wie würde sie auf seine Anwesenheit reagieren? Und wie auf das Geld?
Je mehr sich die Zeit hinschleppte, desto dringender wollte Nate die Erbin sehen.
Beide Wächter schliefen, als aus der Ansiedlung eine Bewegung erkennbar wurde. Jevy warf ein Steinchen zu ihnen hinüber und stieß einen leisen Pfiff aus. Sie sprangen auf und nahmen wieder Haltung an.
Man konnte sehen, dass sich ein Trupp über den Pfad näherte, zu dessen beiden Seiten die Pflanzen kniehoch wuchsen. Rachel gehörte dazu, denn inmitten der nackten braunen Oberkörper leuchtete ein gelbes Hemd. Schon aus hundert Metern Entfernung konnte Nate sehen, dass das Gesicht unter dem Strohhut heller war als das der Indianer.
»Wir haben sie gefunden«, sagte er.
»Ja, das glaube ich auch.«
Es dauerte eine Weile, bis der Trupp sie erreicht hatte. Drei junge Männer gingen voran, und drei folgten der Frau. Sie war ein wenig größer als die Indianer und ging mit natürlicher Anmut. Man hätte glauben können, dass sie einen Spaziergang auf einer Blumenwiese machte. Niemand hatte es eilig.
Nate beobachtete sie bei jedem Schritt. Sie war sehr schlank und hatte breite, knochige Schultern. Als der Trupp näher kam, begann sie herüberzusehen. Nate und Jevy erhoben sich, um sie zu begrüßen.
Die Indianer blieben am Waldsaum stehen, während Rachel weiterging. Sie nahm den Hut ab. Graue Fäden durchzogen ihr sehr kurz geschnittenes braunes Haar. Wenige Schritte von Jevy und Nate entfernt blieb sie stehen.
»Boa tarde, senhor«, sagte sie zu Jevy und sah dann Nate an. Ihre Augen waren dunkelblau, fast indigofarben. Keine Falten, kein Make-up. Er wusste, dass sie zweiundvierzig Jahre alt war, aber sie wirkte alterslos. Sie strahlte die Gelassenheit eines Menschen aus, der unter keinerlei Druck steht.
»Boa tarde.«
Weder bot sie den beiden die Hand, noch stellte sie sich vor. Sie mussten die Initiative übernehmen.
»Ich heiße Nate O'Riley. Ich bin Anwalt aus Washington.«
»Und Sie?« fragte sie Jevy.
»Jevy Cardozo, aus Corumba. Ich bin sein Führer.«
Mit feinem Lächeln sah sie die beiden aufmerksam an. Sie schien die Begegnung zu genießen.
»Was führt Sie her?« Sie sprach ohne jeden regionalen Akzent. In ihrer gepflegten Sprechweise lag nicht der geringste Hinweis auf eine Herkunft aus Louisiana oder Montana.
»Wir haben gehört, dass man hier gut angeln kann«, sagte Nate.
Sie ging nicht darauf ein. »Er macht schlechte Witze«, sagte Jevy entschuldigend.
»Tut mir leid. Ich suche Rachel Lane und habe Grund zu der Annahme, dass Sie das sind.«
Sie hörte sich das an, ohne ihren Gesichtsausdruck zu verändern. »Und warum suchen Sie Rachel Lane?«
»Weil ich Anwalt bin und meine Kanzlei eine wichtige rechtliche Frage mit ihr zu klären hat.«
»Worum geht es da?«
»Das kann ich nur ihr selbst sagen.«
»Bedaure, ich bin nicht Ihre Rachel Lane.«