Jevy seufzte, und Nates Schultern sanken. Ihr entging keine Bewegung und nicht die kleinste Regung. »Haben Sie Hunger?« fragte sie.
Beide Männer nickten. Sie rief den Indianern etwas zu. »Jevy«, sagte sie, »gehen Sie mit diesen Männern ins Dorf. Dort bekommen Sie etwas zu essen, und man wird Ihnen auch etwas für Mr. O'Riley hier mitgeben.«
Sie setzte sich mit Nate im Schatten auf die Bank, von wo aus sie schweigend zusahen, wie die Indianer Jevy ins Dorf führten. Er drehte sich einmal um, wie um sich zu vergewissern, dass es Nate gut ging.
SIEBENUNDZWANZIG
Als die Indianer fort waren, kam ihm die Frau nicht mehr so groß vor. Sie schien die Speisen zu meiden, von denen die Indianerfrauen so dick wurden. Sie hatte lange, schlanke Beine und trug Ledersandalen, was in einer Kultur, in der jeder barfuss ging, sonderbar wirkte. Woher mochte sie die haben? Und woher das gelbe, kurzärmelige Hemd und die Khakishorts? Er hatte so viele Fragen.
Ihre einfache Kleidung wirkte ziemlich abgetragen. Sofern sie nicht selbst Rachel Lane war, wusste sie bestimmt, wo sich diese aufhielt.
Sie saßen so dicht beieinander, dass sich ihre Knie fast berührten. »Rachel Lane hat vor vielen Jahren aufgehört zu existieren«, sagte sie mit einem Blick auf das Dorf in der Ferne. »Ich habe den Vornamen beibehalten, den Nachnamen aber aufgegeben. Es muss sich um eine bedeutende Angelegenheit handeln, sonst wären Sie nicht gekommen.« Sie sprach leise, langsam und deutlich. Jedes Wort wirkte abgewogen.
»Troy Phelan ist tot. Er hat vor drei Wochen Selbstmord begangen.«
Sie senkte den Kopf ein wenig und schloss die Augen. Es sah aus, als ob sie bete. Dann folgte eine lange Pause. Das Schweigen schien ihr nicht unbehaglich zu sein. »Haben Sie ihn gekannt?« fragte sie ihn schließlich.
»Ich bin ihm vor Jahren mal begegnet. In unserer Kanzlei gibt es viele Anwälte, und ich selbst hatte nie mit seinen Angelegenheiten zu tun. Nein, gekannt habe ich ihn nicht.«
»Ich auch nicht. Er war mein irdischer Vater, und ich habe viele Stunden für ihn gebetet, aber er war mir immer fremd.«
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« Nate sprach leiser und langsamer als zuvor. Sie übte einen beruhigenden Einfluss aus.
»Vor vielen Jahren. Bevor ich zum College ging«, sagte sie. »Was wissen Sie über mich?«
»Nicht viel. Sie hinterlassen ja kaum Spuren.«
»Wie haben Sie mich dann gefunden?«
»Mit Troys Hilfe. Er wollte Sie vor seinem Tod aufspüren, hat es aber nicht geschafft. Er wusste, dass Sie als Missionarin bei World Tribes Missions arbeiten und sich in diesem Teil der Welt aufhalten. Alles andere musste ich selbst herausbekommen.«
»Woher mag er das gewusst haben?«
»Er hatte schrecklich viel Geld.«
»Und deswegen sind Sie hier.«
»Ja. Wir müssen über Geldangelegenheiten reden.«
»Er hat mir vermutlich etwas hinterlassen.«
»Das kann man sagen.«
»Ich möchte nicht über Geldangelegenheiten sprechen, sondern mich mit Ihnen unterhalten. Wissen Sie, wie oft ich jemanden in meiner Muttersprache reden höre?«
»Selten, denke ich mir.«
»Ich fahre einmal im Jahr nach Corumba, um Vorräte zu kaufen. Bei der Gelegenheit rufe ich in der Zentrale an und spreche etwa zehn Minuten lang englisch. Das macht mir jedesmal Angst.«
»Warum?«
»Ich bin nervös. Meine Hände zittern, während ich den Hörer halte. Ich kenne die Menschen, mit denen ich rede, fürchte aber, nicht die richtigen Ausdrücke zu benutzen. Manchmal stottere ich sogar. Zehn Minuten pro Jahr.« »Jetzt machen Sie Ihre Sache aber gut.«
»Ich bin schrecklich aufgeregt.«
»Ganz ruhig. Ich bin ein prima Kerl.«
»Aber Sie haben mich gefunden. Ich war vor einer Stunde bei einem Patienten, als die Männer gekommen sind, um mir zu sagen, dass ein Amerikaner hier ist. Ich bin zu meiner Hütte gerannt und habe gebetet. Gott hat mir Kraft gegeben.«
»Ich bin in friedfertiger Absicht gekommen.«
»Sie scheinen nett zu sein.«
Wenn du wüsstest, dachte Nate. »Vielen Dank. Sagten Sie nicht etwas über einen Patienten?«
»Ja.«
»Ich dachte, Sie sind Missionarin.«
»Stimmt. Aber ich bin auch Ärztin.«
Und ausgerechnet Nates Spezialgebiet war es, Ärzte zu verklagen. Aber das war weder der rechte Zeitpunkt noch der rechte Ort für ein Gespräch über ärztliche Kunstfehler. »Das steht nicht in meinen Unterlagen.«
»Ich habe meinen Namen nach dem College geändert, bevor ich Medizin studiert und das Seminar besucht habe. Wahrscheinlich war die Spur da zu Ende.«
»Genau. Und warum haben Sie Ihren Namen geändert?«
»Das ist eine verwickelte Geschichte. Jedenfalls war es das damals. Jetzt scheint mir das nicht mehr wichtig.«
Eine leichte Brise wehte vom Fluss herüber. Es war fast fünf Uhr. Dunkle Wolken hingen tief über dem Wald.
Sie sah, dass er einen Blick auf die Uhr warf. »Die Männer bringen Ihnen Ihr Zelt. Das hier ist ein guter Schlafplatz.«
»Vielen Dank. Ich nehme ja wohl an, dass wir hier sicher sind?«
»Ja. Gott wird Sie schützen. Beten Sie einfach.«
In diesem Augenblick nahm sich Nate vor, zu beten, wie er es von Predigern kannte. Die Nähe des Flusses beunruhigte ihn besonders. Er brauchte nur die Augen zu schließen, um vor sich die Anakonda auf sein Zelt zugleiten zu sehen.
»Sie beten doch gewiss regelmäßig, Mr. O'Riley?«
»Nennen Sie mich bitte Nate. Ja, ich bete.«
»Sind Sie Ire?«
»Eher eine Promenadenmischung. Mehr deutsch als sonst was. Mein Vater hatte irische Vorfahren. Unsere Familiengeschichte hat mich aber nie besonders interessiert.«
»Welcher Kirche gehören Sie an?«
»Der Episkopalkirche.« Religion war ein Thema, über das er nicht gern sprach. Ob Katholik, Lutheraner oder Episkopalist, es war ihm gleichgültig. Seit seiner zweiten Eheschließung hatte er keine Kirche mehr von innen gesehen.
Seine Kenntnisse auf religiösem Gebiet waren eher bescheiden, und er wollte nicht ausgerechnet mit einer Missionarin darüber sprechen. Wieder ließ sie eine Pause eintreten, und er wechselte das Thema. »Sind die Indianer friedlich?«
»Meistens. Die Ipicas sind keine Krieger, aber sie trauen den Weißen nicht.«
»Und was ist mit Ihnen?«
»Ich lebe seit elf Jahren hier. Mich erkennen sie an.«
»Wie lange hat das gedauert?«
»Ich hatte Glück, weil vor mir schon Missionare hier waren, ein Ehepaar. Sie hatten die Sprache gelernt und das Neue Testament übersetzt. Als Ärztin habe ich rasch das Vertrauen der Frauen gewonnen, denn ich habe ihnen geholfen, ihre Kinder zu bekommen.«
»Ihr Portugiesisch klang ziemlich gut.«
»Das spreche ich fließend. Außerdem Spanisch, Ipica und Machiguenga.«
»Was ist das?«
»Die Sprache von Eingeborenen, die in den Bergen von Peru leben. Dort habe ich sechs Jahre zugebracht. Ich hatte mich gerade mit der Sprache der Machiguenga vertraut gemacht, als ich dort fort musste.«
»Warum?«
»Wegen der Guerrilleros.«
Als ob Schlangen, Kaimane, Krankheiten und Überschwemmungen nicht genügten.
»Sie haben in einem Dorf nicht weit von mir zwei Missionare entführt. Aber Gott hat sie gerettet. Sie wurden vier Jahre später freigelassen, ohne dass ihnen ein Haar gekrümmt worden war.«
»Gibt es auch hier in der Gegend Guerilla-Krieger?«
»Nein. Hier in Brasilien sind die Menschen sehr friedfertig. Bisweilen trifft man auf Drogenkuriere, aber so tief ins Pantanal dringt niemand vor.«
»Eine Frage: Wie weit ist es von hier bis zum Paraguay?«
»Um diese Jahreszeit acht Stunden.«
»Brasilianische Stunden?«
Sie lächelte. »Sie wissen also schon, dass die Zeit hier langsamer verstreicht. Acht bis zehn amerikanische Stunden.«