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In jenem Teil des Pantanal gab es vier Arten von Giftschlangen, und häufig hatte Rachel für alle das Gegengift zur Hand. Diesmal aber nicht. Zwar wurde das Gegengift für den Biss der bima in Brasilien selbst hergestellt, doch hatte sie es bei ihrer letzten Reise nach Corumba nicht bekommen können. Die dortigen Apotheken führten weniger als die Hälfte der Medikamente, die sie brauchte.

Sie schnürte ihre Lederstiefel zu und verließ die Hütte mit der Tasche in der Hand. Lako und zwei andere junge Männer aus ihrem Dorf begleiteten sie, während sie im Laufschritt durch die hohen Pflanzen in den Wald eilte. Rachels statistischen Unterlagen zufolge lebten in den vier Ansiedlungen insgesamt 239 Ipicas: 86 Frauen, 81 Männer und 72 Kinder. Als sie elf Jahre zuvor ihre Arbeit aufgenommen hatte, waren es noch 280 gewesen. Die Malaria forderte in Abständen von wenigen Jahren ihre Opfer unter den Schwächeren, und im Jahre 1991 hatte die Cholera in einem Dorf zwanzig Menschen dahingerafft. Hätte Rachel nicht auf einer Quarantäne bestanden, wären die meisten der Ipicas dieser Epidemie erlegen.

Mit der Sorgfalt einer Anthropologin führte sie akribisch Buch über Geburten, Todesfälle, Hochzeiten, Stammbäume, Krankheiten und deren Behandlung. Meist wusste sie, wer eine außereheliche Beziehung hatte und mit wem. Sie kannte jeden Dorfbewohner mit Namen. Sie hatte Ayeshs Eltern in dem Fluss getauft, in dem die Dorfbewohner badeten.

Die kleine, zierliche Ayesh musste wahrscheinlich sterben, weil kein Medikament zur Verfügung stand. In den Vereinigten Staaten und den größeren Städten Brasiliens war das Gegengift ohne weiteres erhältlich und nicht einmal besonders teuer. Sogar mit dem kleinen Etat, den ihr die Missionsgesellschaft zur Verfügung stellte, konnte sie es sich leisten. Drei Spritzen in sechs Stunden, und der Tod ließ sich abwenden. Ohne das Mittel würde das Kind unter einer furchtbaren Übelkeit leiden, anschließend würde ein Fieber einsetzen, auf welches das Koma und schließlich der Tod folgte.

Zum letzten Mal hatte es unter den Ipicas vor drei Jahren einen Todesfall durch Schlangenbiss gegeben. Zum ersten Mal in zwei Jahren besaß Rachel kein Gegengift.

Ayeshs Eltern waren Christen, neue Heilige, die sich mit einer neuen Religion abmühten. Etwa ein Drittel der Ipicas waren bekehrt. Dank der Arbeit Rachels und ihrer Vorgänger konnte die Hälfte von ihnen lesen und schreiben. Sie betete, während sie im Laufschritt den jungen Männern folgte. Sie war schlank und zäh. Sie legte jeden Tag viele Kilometer zurück und aß wenig. Die Indianer bewunderten ihre Ausdauer.

Jevy wusch sich schon im Fluss, als Nate die Mückenklappe des Zelts öffnete und sich herausschälte. Da er die letzten Nächte im Boot und auf dem Erdboden verbracht hatte, meldeten sich die Verletzungen vom Flugzeugabsturz wieder. Er streckte den schmerzenden Rücken und die Beine und spürte dabei jedes einzelne seiner achtundvierzig Jahre. Er sah Jevy bis zur Hüfte im Wasser stehen, das weit klarer war als im übrigen Pantanal.

Ich befinde mich in der Wildnis, flüsterte Nate vor sich hin. Ich habe Hunger, und es gibt kein Toilettenpapier. Vorsichtig betastete er seine Zehen, während er diese traurige Inventur machte.

Es war ein Abenteuer, zum Kuckuck! Es war die Jahreszeit, in der Anwälte mit dem Vorsatz ins neue Jahr gingen, künftig mehr Stunden in Rechnung zu stellen, in Prozessen höhere Entschädigungssätze zugesprochen zu bekommen, die Gemeinkosten zu senken und mehr Geld nach Hause zu bringen. Auch er hatte sich das jahrelang immer wieder vorgenommen, und jetzt kam ihm das mit einem Mal albern vor.

Mit etwas Glück würde er heute nacht in seiner Hängematte schlafen, in der leichten Brise schaukeln und Kaffee trinken. Soweit sich Nate erinnern konnte, hatte er sich noch nie zuvor nach schwarzen Bohnen mit Reis gesehnt. Jevy kehrte zurück, als ein Indianertrupp aus dem Dorf herbeikam. Der Häuptling wollte mit ihnen sprechen. »Er möchte Brot haben«, sagte Jevy, als sie fortgingen.

»Brot ist okay. Fragen Sie, ob sie Schinken und Eier haben.«

»Die Eingeborenen essen viel Affenfleisch.«

Es kam Nate nicht so vor, als hätte er das im Spaß gesagt. Am Rande des Dorfes stand eine Gruppe Kinder, um einen Blick auf die Fremden zu erhaschen. Nate begrüßte sie mit einem gefrorenen Lächeln. Er wollte, dass man ihn mochte, und er war sich noch nie im Leben so weiß vorgekommen. Einige nackte Mütter glotzten aus der ersten Hütte. Als er und Jevy die große, freie Fläche zwischen den Hütten betraten, hielten alle mit ihrem Tun inne und starrten die Fremden an.

Es war kurz nach sieben und schon sehr heiß. Kleine Feuer waren niedergebrannt; vielleicht war die Frühstückszeit schon vorüber. Wie Nebel hing der Rauch über den Dächern und machte die feuchte Luft noch schwerer. Wer auch immer die Anlage des Dorfes, die ein großes Oval bildete, geplant haben mochte, hatte gute Arbeit geleistet. Alle Hütten waren vollkommen quadratisch und gingen auf eine große, freie Fläche, den Dorfplatz. Ihr steiles Strohdach reichte fast bis zum Boden. Einzelne waren etwas größer als die übrigen, doch der Grundriss war stets derselbe. In der Mitte des Platzes standen vier große Hütten mit den gleichen dicken Strohdächern wie die Wohnhütten. Zwei von ihnen waren rund, die beiden anderen rechteckig.

Der Häuptling, der größte Indianer, den sie bisher gesehen hatten, wartete auf die beiden Fremden. Es wunderte sie nicht im geringsten, dass er die größte Hütte bewohnte. Er war jung und hatte weder die tiefen Stirnfalten noch den dicken Bauch, den die älteren Männer mit Stolz trugen. Er stand da und sah Nate mit einem Blick an, der John Wayne Entsetzen eingeflößt hätte. Ein älterer Krieger dolmetschte, und nach wenigen Minuten wurden Nate und Jevy aufgefordert, am Feuer Platz zu nehmen, über dem die unbekleidete Frau des Häuptlings das Frühstück zubereitete.

Als sie sich vorbeugte, pendelten ihre Brüste, und der arme Nate sah unwillkürlich hin, wenn auch nur eine lange Sekunde. An dieser nackten Frau oder ihren Brüsten war nichts besonders Verlockendes. Ihn erstaunte lediglich, dass sie sich ihrer Nacktheit so wenig bewusst zu sein schien.

Wo hatte er seine Kamera? Das würden die Jungs im Büro ohne Beweis nie glauben.

Die Frau gab Nate einen Holzteller, auf dem etwas lag, das aussah wie gekochte Kartoffeln. Er sah zu Jevy hin, der rasch nickte, als hätte die Indianerküche vor ihm keinerlei Geheimnisse. Die Frau bediente den Häuptling zuletzt, und als dieser mit den Fingern zu essen begann, folgte Nate seinem Beispiel. Die Speise schien so etwas wie ein Mittelding zwischen weißen Rüben und Kartoffeln zu sein und schmeckte fast nach nichts.

Jevy sprach mit dem Häuptling, während er aß, und dieser schien die Unterhaltung zu genießen. Nach jeweils wenigen Sätzen setzte Jevy Nate über das Gesagte in Kenntnis.

Das Dorf wurde nie überschwemmt, diese Indianer lebten schon seit über zwanzig Jahren da, denn der Boden war gut. Am liebsten würden sie an ein und derselben Stelle bleiben, aber bisweilen zwinge der Zustand des Ackerbodens sie weiterzuziehen. Sein Vater sei auch Häuptling gewesen. Ein Häuptling sei, so der Häuptling, der klügste, gerechteste und weiseste unter ihnen allen und dürfe sich auf keinen Fall eine außereheliche Beziehung leisten. Die meisten anderen Männer täten das, aber kein Häuptling.

Nate konnte sich nicht vorstellen, dass es darüber hinaus viel Abwechslung gab.

Der Häuptling erklärte, er habe den Paraguay noch nie gesehen. Da er lieber jage als Fische fange, verbringe er mehr Zeit in den Wäldern als auf dem Wasser. Seine Portugiesisch-Kenntnisse habe er von seinem Vater und den weißen Missionaren.

Nate aß, hörte zu und suchte mit den Augen das Dorf nach einem Hinweis auf Rachels Anwesenheit ab.

Sie sei nicht da, erklärte der Häuptling. Sie müsse im Nachbardorf ein Kind behandeln, das von einer Schlange gebissen worden war. Er wisse nicht, wann sie zurückkehre.