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Nate saß auf einem Baumstumpf und beobachtete dies Schauspiel, das aus einem anderen Zeitalter stammte. Er fragte sich, wohin er da eigentlich geraten war, und es war nicht das erste Mal, dass er sich diese Frage stellte.

NEUNUNDZWANZIG

Nur wenige der Indianer um Nate herum wussten, dass das kleine Mädchen Ayesh hieß. Schließlich war sie nur ein Kind und lebte in einem anderen Dorf. Doch alle wussten, dass eine Schlange ein Mädchen gebissen hatte.

Sie unterhielten sich den ganzen Tag lang darüber und achteten darauf, dass ihre eigenen Kinder in der Nähe blieben.

Beim Abendessen kam die Mitteilung, dass das Mädchen tot war. Ein Bote kam gerannt und brachte dem Häuptling die Nachricht, die sich binnen Minuten in allen Hütten verbreitete. Mütter zogen ihre Kinder noch näher an sich.

Nach einer Weile sah man Rachel auf dem Hauptweg mit Lako und den beiden Männern, die sie den ganzen Tag lang begleitet hatten. Als sie das Dorf betrat, hörten alle auf zu essen und zu reden und sahen zu dem kleinen Trupp hin. Während Rachel an den Hütten vorüberging, senkten die Leute die Köpfe. Sie lächelte einigen zu, sprach leise mit anderen, blieb stehen, um dem Häuptling etwas zu sagen, und ging dann zu ihrer Hütte. Ihr folgte Lako, der stärker hinkte als am Vormittag.

Sie kam in der Nähe des Baumes vorüber, unter dem Nate mit Jevy und dem Indianer den größten Teil des Nachmittags zugebracht hatten, schien sie aber nicht wahrzunehmen. Jedenfalls sah sie nicht zu ihnen hin. Sie war müde und schien darauf bedacht, in ihre Hütte zurückzukehren.

»Und was tun wir jetzt?« fragte Nate. Jevy gab die Frage auf portugiesisch weiter.

»Wir warten«, kam die Antwort.

»Was für eine Überraschung.«

Lako stieß zu ihnen, als die Sonne hinter den Bergen unterging. Jevy und der Indianer gingen ins Dorf, um zu essen, was vom Abendessen übriggeblieben war. Nate folgte dem Jungen zu Rachels Hütte. Sie hatte sich bereits umgezogen, stand mit nassen Haaren im Eingang und trocknete sich das Gesicht mit einem Handtuch ab.

»Guten Abend, Mr. O'Riley«, sagte sie mit ihrer leisen, langsamen Sprechweise.

»Hallo, Rachel. Bitte nennen Sie mich doch Nate.«

»Setzen Sie sich da drüben hin, Nate«, sagte sie und wies auf einen niedrigen Baumstumpf, der dem, auf dem er die letzten sechs Stunden verbracht hatte, bemerkenswert ähnlich sah. Er stand vor der Hütte in der Nähe eines Steinrings, in dem sie vermutlich ihr Kochfeuer entzündete. Er setzte sich. Sein Hinterteil war immer noch gefühllos.

»Das mit dem kleinen Mädchen tut mir leid«, sagte Nate.

»Sie ist bei ihrem Herrn.«

»Aber nicht ihre armen Eltern.«

»Nein. Sie sind tief bekümmert. Es ist sehr traurig.«

Die Arme um die Knie geschlungen, den Blick verloren in die Ferne gerichtet, saß sie im Eingang ihrer Hütte.

Der Junge stand unter einem Baum in der Nähe Wache. Man sah ihn in der Dunkelheit kaum.

»Ich würde Sie gern hereinbitten«, sagte sie, »aber das gehört sich nicht.«

»Kein Problem.«

»Nur Verheiratete dürfen sich um diese Zeit im Inneren einer Hütte aufhalten. Das ist hier so Brauch.«

»Ein sehr vernünftiger Brauch.«

»Das stimmt. Haben Sie Hunger?«

»Sie?«

»Nein. Aber ich esse sowieso nicht viel.«

»Ich bin ganz zufrieden. Wir müssen miteinander reden.«

»Das mit heute tut mir leid. Bestimmt haben Sie dafür Verständnis.«

»Natürlich.«

»Ich kann Ihnen etwas Maniok und ein wenig Saft zu trinken anbieten.«

»Nein, ehrlich, ich brauch nichts.«

»Wie haben Sie den Tag zugebracht?«

»Na ja, wir sind dem Häuptling vorgestellt worden, haben an seinem Tisch gefrühstückt, sind zum ersten Dorf zurückgekehrt, haben das Boot geholt, daran gearbeitet, unser Zelt hinter der Hütte des Häuptlings aufgeschlagen und dann auf Sie gewartet.«

»Hat der Häuptling Zutrauen zu Ihnen gefasst?«

»Ganz offensichtlich. Er möchte, dass wir bleiben.«

»Was halten Sie von meinen Leuten?«

»Sie laufen alle nackt rum.«

»Das war schon immer so.«

»Wie lange hat es gedauert, bis Sie sich daran gewöhnt hatten?«

»Das weiß ich nicht mehr. Ein paar Jahre. Allmählich wird es einem so selbstverständlich wie alles andere. Ich hatte drei Jahre lang Heimweh, und manchmal überfällt mich auch heute noch der plötzliche Wunsch, Auto zu fahren, eine Pizza zu essen und einen guten Film zu sehen. Aber man passt sich an.«

»Ich kann mir das gar nicht richtig vorstellen.«

»Man muss dazu berufen sein. Ich habe mich mit vierzehn Jahren entschieden, mein Leben als bewusste Christin zu verbringen. Damals ist mir aufgegangen, dass mich Gott zur Missionarin bestimmt hatte. Ich wusste nicht genau, wo, aber ich habe auf den Herrn vertraut.«

»Da hat er Ihnen aber einen verdammt abgeschiedenen Ort ausgesucht.«

»Ich spreche gern englisch mit Ihnen, aber bitte fluchen Sie nicht.«

»Tut mir leid. Können wir über Troy reden?« Die Schatten wurden rasch dunkler. Sie saßen drei Meter voneinander entfernt und konnten einander noch sehen, doch bald würde die Schwärze der Nacht sie voneinander trennen.

»Wie Sie wollen«, sagte sie müde und resigniert.

»Er war dreimal verheiratet und hatte, soweit wir wissen, insgesamt sieben Kinder. Sie waren für uns natürlich eine Überraschung. Die anderen sechs hat er nicht leiden können und ihnen daher so gut wie nichts hinterlassen, gerade genug, dass sie ihre Schulden bezahlen können. Sie hingegen scheint er in sein Herz geschlossen zu haben, denn alles andere geht an Rachel Lane, die am 2. November 1954 im katholischen Krankenhaus von New Orleans als uneheliches Kind der inzwischen verstorbenen Evelyn Cunningham zur Welt gekommen ist. Jene Rachel dürften Sie sein.«

In der Stille, die sie umgab, schienen diese Worte besonderes Gewicht zu haben. Rachel nahm das Gesagte auf und dachte wie immer lange nach, bevor sie etwas sagte. »Nein, er hatte mich nicht ins Herz geschlossen. Wir haben einander zwanzig Jahre lang nicht gesehen.«

»Das ist unerheblich. Er hat Ihnen sein Vermögen hinterlassen. Niemand hatte Gelegenheit, ihn zu fragen, warum, denn nachdem er dies Testament unterschrieben hatte, ist er von einer Dachterrasse gesprungen. Ich habe eine Kopie mitgebracht.«

»Ich möchte sie nicht sehen.«

»Außerdem habe ich einige weitere Papiere, die Sie bitte unterschreiben wollen, vielleicht gleich morgen früh, wenn wir wieder etwas sehen können. Dann kann ich zurückkehren.«

»Was für Papiere sind das?«

»Alle möglichen gesetzlich vorgeschriebenen Dokumente, alles zu Ihrem Besten.«

»Ihnen liegt nichts an meinem Besten.« Diesmal kam ihre Antwort sehr viel schneller und schärfer, und Nate zuckte unter dem Vorwurf zusammen.

»Das stimmt nicht«, gab er zurück. Es klang kläglich.

»Doch, es stimmt. Sie wissen weder, was ich möchte oder brauche, noch, was ich mag oder was nicht. Sie kennen mich nicht, Nate, woher wollen Sie also wissen, was zu meinem Besten ist und was nicht?«

»Na schön, Sie haben recht. Ich kenne Sie nicht, und Sie kennen mich nicht. Ich bin hier, weil der Nachlass Ihres Vaters geregelt werden muss. Mir fällt es immer noch sehr schwer zu glauben, dass ich tatsächlich in der Dunkelheit vor einer Hütte in einem primitiven Indianerdorf sitze, mitten in einem Sumpfgebiet, das so groß ist wie der Staat Colorado, in einem Land der dritten Welt, das ich nie zuvor gesehen habe, und mit einer ganz reizenden Missionarin rede, die zufällig die reichste Frau der Welt ist. Ja, Sie haben recht, ich weiß nicht, was zu Ihrem Besten ist. Aber es ist sehr wichtig, dass Sie diese Dokumente sehen und unterschreiben.«

»Ich unterschreibe nichts.«

»Na hören Sie mal!«

»Ich bin nicht an Ihren Dokumenten interessiert.«