Nate sah in der Dunkelheit zu dem Baum hinüber, unter dem Lako betete, konnte aber nichts erkennen.
Sie fuhr fort: »Dieser Indianerjunge hat nichts auf dieser Erde, aber er sammelt Schätze im Himmel. Er weiß, dass er dort die Ewigkeit bei seinem Schöpfer verbringen wird, wenn er einmal stirbt. Lako ist reich.«
»Was ist mit Troy?«
»Ich bezweifle, dass er im Glauben an Christus gestorben ist. Vermutlich brennt er jetzt in der Hölle.«
»Das glauben Sie doch selbst nicht.«
»Die Hölle ist durchaus real, Nate. Lesen Sie die Bibel. In diesem Augenblick würde Troy seine elf Milliarden für ein Glas kühles Wasser hergeben.«
Nate fehlten die Voraussetzungen, mit einer Missionarin theologische Fragen zu erörtern, und das war ihm auch klar. So sagte er eine Weile nichts, und sie verstand. Minuten verstrichen, und selbst der letzte Säugling im Dorf schlief ein. Die Nacht war völlig schwarz und still, man sah weder Mond noch Sterne. Das einzige Licht kam von der schmalen gelben Flamme zu ihren Füssen.
Sehr sanft berührte sie ihn. Sie tätschelte dreimal seinen Arm und sagte: »Es tut mir leid. Ich hätte nicht sagen sollen, dass Sie einsam sind. Woher sollte ich das wissen?«
»Es ist schon in Ordnung.«
Sie ließ ihre Finger auf seinem Arm liegen, als wolle sie unbedingt etwas berühren.
»Sie sind ein guter Mensch, nicht wahr, Nate?«
»Ach, eigentlich nicht. Ich tu vieles, was ich nicht tun sollte. Ich bin ein schwacher Mensch, und ich möchte nicht darüber reden. Ich bin nicht hergekommen, um Gott zu finden. Sie aufzustöbern war schwer genug. Das Gesetz verlangt von mir, dass ich Ihnen diese Papiere aushändige.«
»Ich unterschreibe sie nicht, und ich möchte das Geld nicht.«
»Ach, kommen Sie -«
»Bitten Sie mich nicht. Meine Entscheidung ist endgültig. Wir wollen nicht über das Geld reden.«
»Aber es ist der einzige Grund dafür, dass ich hier bin.«
Sie nahm ihre Finger fort, schob sich aber ein wenig näher an ihn, so dass ihre Knie einander berührten. »Es tut mir leid, dass Sie gekommen sind. Sie haben den Weg vergeblich gemacht.«
Wieder trat eine Pause ein. Er musste sich erleichtern, doch die Vorstellung, auch nur einen Schritt in irgendeine Richtung zu tun, entsetzte ihn.
Lako sagte etwas und schreckte Nate damit auf. Er stand weniger als drei Meter entfernt, doch man sah ihn nicht. »Er muss zu seiner Hütte gehen«, sagte sie und stand auf. »Folgen Sie ihm.«
Nate erhob sich langsam mit schmerzenden Gelenken. Zögernd dehnten sich seine Muskeln. »Ich würde gern morgen aufbrechen.«
»Gut. Ich werde mit dem Häuptling sprechen.«
»Das wird doch nicht schwierig sein?«
»Wahrscheinlich nicht.«
»Sie sollten mir eine halbe Stunde widmen, damit wir uns zumindest gemeinsam die Papiere ansehen und ich Ihnen die Kopie des Testaments zeigen kann.«
»Wir können uns unterhalten. Gute Nacht.«
Auf dem kurzen Weg ins Dorf folgte er Lako so dicht, dass er ihm fast auf die Fersen getreten hätte.
»Hier«, flüsterte Jevy aus der Dunkelheit. Irgendwie hatte er erreicht, dass man ihnen gestattete, zwei Hängematten auf der kleinen Veranda des Männerhauses zu nutzen. Nate fragte, wie Jevy das angestellt hatte. Er versprach, es ihm am nächsten Morgen zu erklären.
Lako verschwand in der Nacht.
DREISSIG
F. Parr Wycliff war damit beschäftigt, im Gerichtssaal sein Tagespensum an öden mündlichen Verhandlungen abzuarbeiten. Er war bereits im Rückstand. Im Richterzimmer wartete Josh mit dem Videoband. Er schritt in dem vollgestellten Raum auf und ab, griff nach seinem Mobiltelefon, war mit den Gedanken in einer anderen Hemisphäre. Er hatte immer noch nichts von Nate gehört.
Valdirs beruhigende Worte - das Pantanal ist groß, der Führer ist zuverlässig, es ist ein gutes Boot, die Indianer ziehen von einem Ort zum anderen und wollen von niemandem gefunden werden, alles ist in bester Ordnung -kamen ihm einstudiert vor. Er werde sich melden, sobald er etwas von Nate hörte. Josh hatte schon erwogen, eine Rettungsaktion zu organisieren. Aber vermutlich war es nicht möglich, ins Pantanal vorzudringen, um einen verlorengegangenen Anwalt zu finden. Wie es aussah, war es schon schwierig genug, bis Corumba zu gelangen. Dennoch konnte er hinfliegen, sich zu Valdir ins Büro setzen und warten, bis eine Meldung kam.
Josh arbeitete an sechs Tagen die Woche zwölf Stunden täglich, und der Fall Phelan stand kurz vor der Explosion. Ihm blieb kaum Zeit zum Mittagessen, von einer Reise nach Brasilien ganz zu schweigen.
Er versuchte, Valdir über sein Mobiltelefon zu erreichen, aber die Leitung war besetzt.
Wycliff kam herein, entschuldigte sich und zog sich gleichzeitig die Robe aus. Ihm lag daran, einen einflussreichen Anwalt wie Stafford mit der Bedeutung der bei ihm anliegenden Fälle zu beeindrucken.
Sie waren allein im Richterzimmer. Schweigend betrachteten sie den Anfang des Videobandes. Auf ihm war zu sehen, wie der alte Troy im Rollstuhl saß und Josh ihm das Mikrophon zurechtrückte. Dann traten die drei Psychiater mit ihren langen Fragelisten auf. Die Befragung dauerte einundzwanzig Minuten und endete mit der einhellig geäußerten Meinung, dass Mr. Phelan durchaus wisse, was er tue. Wycliff konnte ein breites Lächeln nicht unterdrücken.
Das Konferenzzimmer leerte sich. Die unmittelbar auf Troy gerichtete Kamera blieb eingeschaltet. Er holte das eigenhändige Testament hervor und unterschrieb es vier Minuten nach dem Ende der Befragung durch die Psychiater.
»Und jetzt springt er«, sagte Josh.
Die Kamera bewegte sich nicht. Sie erfasste Troy, als er sich unvermittelt vom Tisch abstieß und aus dem Rollstuhl aufstand. Während er vom Bildschirm verschwand, starrten Josh, Snead und Tip Durban eine Sekunde lang ungläubig, dann rannten sie hinter dem alten Mann her. Die Bilder waren durchaus dramatisch.
Fünfeinhalb Minuten lang zeichnete die Kamera lediglich leere Stühle auf. Man hörte Stimmen. Dann sah man, wie sich der arme Snead auf Troys Platz setzte. Er war sichtlich erschüttert und den Tränen nahe, brachte es aber fertig, in die Kamera zu sagen, was er soeben miterlebt hatte. Josh und Tip Durban taten das gleiche. Neununddreißig Minuten Videoband.
»Wie wollen sie nur dagegen angehen?« fragte Wycliff, als es vorüber war. Auf diese Frage blieb ihm Josh die Antwort schuldig. Zwei der Nachkommen Troys - Rex und Libbigail - hatten bereits den Antrag gestellt, das Testament anzufechten. Ihren Anwälten Hark Gettys und Wally Bright war es gelungen, ein beträchtliches Maß an Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und zu erreichen, dass Presseleute sie interviewten und fotografierten.
Die anderen Nachkommen würden bald ihrem Beispiel folgen. Josh hatte mit den meisten ihrer Anwälte gesprochen; alle waren praktisch schon auf dem Weg zum Gericht.
»Jeder zweifelhafte Psychofritze im Land möchte ein Stück von diesem Kuchen haben«, sagte Josh. »Wir werden viele abweichende Meinungen zu hören bekommen.«
»Macht Ihnen der Selbstmord Sorgen?«
»Natürlich. Aber Troy hatte alles auf das sorgfältigste geplant, sogar seinen Selbstmord. Er wusste haargenau, wann und auf welche Weise er sterben wollte.«
»Was ist mit dem anderen Testament, dem dicken Dokument, das er als erstes unterschrieben hat?«
»Er hat es nicht unterschrieben.«
»Aber ich habe es doch selbst gesehen. Man sieht es auf dem Video.«
»Trotzdem. Er hat den Namen Micky Maus darunter geschrieben.«
Wycliff hatte sich Notizen gemacht, doch jetzt verharrte seine Hand mitten im Satz. »Micky Maus?« wiederholte er.
»Die Sache verhält sich wie folgt: Zwischen 1982 und 1996 habe ich für Mr. Phelan elf Testamente vorbereitet, teils umfangreiche, teils knappe. Darin hat er auf mehr verschiedene Arten über sein Vermögen verfügt, als Sie sich vorstellen können. Das Gesetz verlangt, dass ein Testament vernichtet wird, wenn es durch ein neues ersetzt werden soll. Also habe ich ihn mit der jeweiligen neuesten letztwilligen Verfügung in seinem Büro aufgesucht,