»Unfassbar.«
»Das hab ich auch gedacht, und ich war selbst da.«
»Ist sie klug?«
»Sie ist promoviert, Josh, eine Ärztin. Außerdem hat sie einen Abschluß von ihrem Missionsseminar und spricht fünf Sprachen. «
»Sie ist Ärztin?«
»Ja, aber wir haben uns nicht über Kunstfehlerprozesse unterhalten.«
»Du hast gesagt, dass sie wunderschön sei.«
»Habe ich das?«
»Ja, vor zwei Tagen am Telefon. Ich glaube, da hast du unter dem Einfluss von Medikamenten gestanden.« »Stimmt. Aber ich nehme kein Wort zurück.«
»Heißt das, du magst sie?«
»Wir sind Freunde geworden.« Es hätte keinen Sinn, Josh mitzuteilen, dass sie in Corumba war. Nate hoffte, sie bald zu finden und mit ihr über Troys Nachlass zu reden, solange sie sich in der Zivilisation befand.
»Das war ein ziemliches Abenteuer«, sagte Nate. »Milde gesagt.«
»Ich hab vor Sorge um dich nicht schlafen können.«
»Reg dich ab. Unkraut vergeht nicht.«
»Ich hab dir fünftausend Dollar runter telegrafiert. Valdir hat das Geld.«
»Danke, Chef.«
»Ruf mich morgen wieder an.«
Valdir lud ihn zum Abendessen ein, aber er lehnte ab. Er holte sich das Geld und durchstreifte zu Fuß die Straßen von Corumba. Als erstes kleidete er sich ein: Unterwäsche, Safarishorts, einfache weiße T-Shirts; außerdem kaufte er Wanderstiefel. Als er seine Neuerwerbungen vier Nebenstraßen weiter ins Palace Hotel geschleppt hatte, war er so erschöpft, dass er zwei Stunden lang schlief.
Jevy fand nicht die geringste Spur von Rachel. Er suchte mit den Augen die Menschenmenge ab, die sich auf den Straßen drängte. Er sprach mit den Leuten vom Fluss, die er so gut kannte, aber keiner von ihnen hatte sie ankommen sehen. Er steckte den Kopf in alle Hotelhallen der Stadt und schäkerte mit den Frauen am Empfang. Niemand hatte eine alleinreisende etwa vierzigjährige Amerikanerin gesehen.
Je länger sich der Nachmittag hinzog, desto mehr zweifelte Jevy an Nates Geschichte. Das Denguefieber ruft Halluzinationen hervor, man sieht Dinge, hört Stimmen, glaubt an Gespenster, vor allem in der Nacht. Trotzdem suchte er weiter.
Auch Nate streifte umher, nachdem er wieder aufgewacht war und eine weitere Mahlzeit zu sich genommen hatte. Er trug eine Flasche Wasser mit sich, achtete darauf, dass er langsam ging, und hielt sich möglichst im Schatten. Auf dem Felsabsturz über dem Fluss machte er eine Pause und betrachtete das Pantanal, das sich majestätisch Hunderte von Kilometern vor ihm erstreckte.
Dann überfiel ihn die Erschöpfung, und er schleppte sich ins Hotel zurück, um wieder zu schlafen. Er wurde davon wach, dass Jevy an die Tür klopfte. Sie hatten sich für sieben Uhr zum Abendessen verabredet, und es war acht Uhr durch. Beim Eintreten hielt Jevy misstrauisch Ausschau nach leeren Flaschen. Es gab keine.
Sie aßen Brathähnchen in einem Straßencafe. Fußgänger belebten die Straßen, und Musik erfüllte die Luft. Paare mit kleinen Kindern kauften Eiscreme und kehrten nach Hause zurück. Halbwüchsige zogen in Gruppen ohne erkennbares Ziel umher. Vor den Lokalen standen die Gäste auf dem Bürgersteig. Junge Männer und Frauen zogen von einem Lokal zum nächsten. Auf den Straßen war es warm und sicher; kein Mensch schien zu befürchten, dass man auf ihn schießen oder ihn ausrauben könnte.
An einem Tisch in der Nähe trank ein Mann kaltes Brahma-Bier aus einer braunen Flasche, und Nate sah ihm bei jedem Schluck zu.
Nach dem Nachtisch verabschiedeten sie sich voneinander und verabredeten, früh am nächsten Morgen gemeinsam weiterzusuchen. Jevy ging in die eine Richtung, und Nate in die andere. Er war ausgeruht und hatte es satt, im Bett herumzuliegen.
Zwei Nebenstraßen vom Fluss entfernt wurde es stiller. Die Läden waren geschlossen, in den Häusern brannte kein Licht, es herrschte kaum Verkehr. Vor sich sah Nate die Lichter einer kleinen Kapelle. Da wird sie sein, sagte er sich. Fast hätte er es laut gesagt.
Da die Tür weit offen stand, konnte er vom Bürgersteig aus hölzerne Bankreihen sehen, die leere Kanzel, das Wandbild mit Christus am Kreuz und die Rücken einiger Menschen, die mit gesenkten Köpfen versunken beteten. Leise Orgelmusik lockte ihn ins Innere. Er blieb in der Tür stehen und sah, dass insgesamt fünf Menschen in den Bänken verteilt saßen. Keiner von ihnen sah Rachel auch nur im entferntesten ähnlich. Die Orgelbank unter dem Wandgemälde war leer. Die Musik kam aus einem Lautsprecher.
Er hatte Zeit und konnte warten. Vielleicht würde sie ja kommen. Langsam ging er an der hintersten Bankreihe entlang und setzte sich. Er betrachtete die Kreuzigungsszene, die Nägel in Seinen Händen, den Lanzenstich in Seiner Seite, die Qual auf Seinen Zügen. Hatte man Ihn wirklich auf so abscheuliche Weise umgebracht? Irgendwann in seinem kläglichen und auf weltliche Dinge gerichteten Leben hatte auch Nate die Geschichten aus dem Leben Jesu gelesen oder erzählt bekommen: die jungfräuliche Geburt, daher Weihnachten; das Gehen auf dem Wasser; dann noch das eine oder andere Wunder; hatte der Wal Ihn verschlungen, oder war das ein anderer gewesen? Dann der Verrat durch Judas, das Verfahren vor Pilatus, die Kreuzigung, daher Ostern, und schließlich die Himmelfahrt.
Ja, die grundlegenden Tatsachen waren Nate bekannt. Vielleicht hatte seine Mutter sie ihm erzählt. Keine seiner Frauen war zur Kirche gegangen, obwohl Gattin Nummer zwei katholisch gewesen war und sie jedes zweite Jahr die Christmette besucht hatten.
Drei weitere Menschen kamen von der Straße herein. Ein junger Mann mit einer Gitarre trat durch einen Seiteneingang und ging zur Kanzel. Es war genau halb zehn. Er schlug einige Akkorde an und begann zu singen, wobei sein Gesicht vor Begeisterung glühte. Eine winzige Frau, die eine Bank weiter saß, klatschte in die Hände und sang mit.
Unter Umständen würde die Musik Rachel anlocken. Sie musste doch große Sehnsucht nach dem Gottesdienst in einer richtigen Kirche mit einem Holzfußboden und Buntglasfenstern haben, in der vollständig angezogene Menschen in einer Kultursprache aus der Bibel lasen. Gewiss suchte sie die Kirchen auf, wenn sie in Corumba war.
Als das Lied zu Ende war, las der junge Mann einen Bibeltext und begann darüber zu sprechen. Nate hatte im Verlauf seines kleinen Abenteuers noch niemanden so langsam portugiesisch sprechen hören. Die leisen, ver-schliffenen Laute und der getragene Rhythmus fesselten ihn. Obwohl er kein Wort verstand, versuchte er, sich die Sätze zu wiederholen. Dann schweiften seine Gedanken ab.
Sein Körper hatte sich von den Auswirkungen der Fieberanfälle und der Medikamente erholt. Er war gut genährt, ausgeruht und tatendurstig. Er war wieder er selbst, und das bedrückte ihn mit einem Mal. Die Gegenwart stand wieder vor ihm, Hand in Hand mit der Zukunft. Die Last, die er bei Rachel abgeladen hatte, drohte ihm wieder, hier in dieser Kirche. Rachel musste sich unbedingt zu ihm setzen, seine Hand halten und ihm beten helfen.
Er hasste seine Schwächen. Er zählte sie eine nach der anderen auf, und die Länge der Liste betrübte ihn. Die Dämonen warteten zu Hause auf ihn - die guten und die schlechten Freunde, die Orte, an denen er sich aufzuhalten pflegte, und die Gewohnheiten, denen er anhing, der Druck, dem er nicht länger standhalten konnte. Weder vermochte er für tausend Dollar am Tag ein Leben mit den Sergios dieser Welt zu führen, noch eines, bei dem er frei auf der Straße umherzog.
Jetzt betete der junge Mann, die Augen fest geschlossen, während er die Arme flehend zum Himmel erhob. Auch Nate schloss die Augen und sagte den Namen Gottes. Gott wartete auf ihn.
Mit beiden Händen umklammerte er die Lehne der Bank vor ihm. Murmelnd wiederholte er die Liste, sagte leise jede Schwäche, jede Sünde, jede Qual und jedes Übel vor sich hin, die ihn heimsuchten. Er beichtete alles. In einem einzigen langen Bekenntnis seines Versagens stellte er sich nackt und bloß vor Gott hin. Er verschwieg nichts. Er lud so viele Bürden ab, dass sie genügt hätten, drei Männer unter sich zu begraben. Als er schließlich endete, standen ihm Tränen in den Augen. »Es tut mir leid«, flüsterte er Gott zu. »Bitte hilf mir.«