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Ebenso rasch, wie das Fieber seinen Körper verlassen hatte, fühlte er seine Seele von ihrer Last befreit. Mit einer sanften Handbewegung war sein Sündenregister getilgt. Er stieß einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus, aber sein Puls jagte.

Wieder hörte er die Gitarre. Er öffnete die Augen und wischte sich die Wangen. Jetzt sah er nicht den jungen Mann auf der Kanzel, sondern das von Leid und Schmerz verzerrte Gesicht Christi, der am Kreuz starb. Für ihn. Eine Stimme rief ihn. Sie kam aus seinem Inneren und wollte ihn durch den Mittelgang der kleinen Kirche führen. Aber die Aufforderung verwirrte ihn. In ihm lagen viele Empfindungen im Widerstreit miteinander. Mit einem Mal waren seine Augen trocken.

Warum weine ich eigentlich in einer kleinen Kapelle, in der es heiß ist, und höre mir Musik an, die ich nicht verstehe, in einer Stadt, die ich nie wiedersehen werde? Die Fragen bestürmten ihn, ohne dass er eine Antwort darauf fand.

Es war schön und gut, dass Gott ihm seine verblüffende Zahl von Missetaten vergab, und es kam Nate tatsächlich so vor, als wäre seine Last leichter geworden - aber dass von ihm erwartet wurde, die Nachfolge Christi anzutreten, dieser Schritt war sehr viel schwerer zu vollziehen.

Während er weiter der Musik zuhörte, fühlte er sich verwirrt. Es war unmöglich, dass Gott ihn rief. Er war Nate

O'Riley - Säufer, Drogensüchtiger, Weiberheld, ein Vater, der seine Kinder vernachlässigte, ein schlechter Ehemann, ein habgieriger Anwalt, ein Steuerbetrüger. Die traurige Liste hörte überhaupt nicht auf.

Ihm war schwindelig. Die Musik hörte auf, und als sich der junge Mann daran machte, ein weiteres Lied anzustimmen, verließ Nate die Kirche in aller Eile. Während er eine Ecke umrundete, warf er einen Blick hinter sich. Er hoffte, Rachel zu sehen, wollte sich aber auch vergewissern, dass ihm Gott nicht jemanden nachschickte.

Er musste mit jemandem reden. Er war sicher, dass sie sich in Corumba aufhielt, und er nahm sich vor, sie unter allen Umständen zu finden.

ACHTUNDDREISSIG

Ein despachante ist unabdingbarer Bestandteil des Lebens in Brasilien. Keine Firma, Bank, Anwaltskanzlei oder Arztpraxis, keine Privatperson, die über Geld verfügt, kann ohne die Dienste eines despachante auskommen. Er ist das Schmiermittel im Getriebe eines Landes, in dem eine überholte Bürokratie wuchert, er kennt nicht nur die Beamten der Stadtverwaltung, sondern auch jeden bei Gericht, alle Zollbeamten und jeden anderen Amtsträger. Er durchschaut das System und weiß, wie man sich seiner bedient. In Brasilien kann man ohne endlos langes Schlangestehen kein amtliches Dokument bekommen, und der despachante ist derjenige, der sich für andere in die Schlange stellt. Gegen eine kleine Gebühr wartet er acht Stunden lang, um die Autozulassung zu verlängern, und klebt dann seinem Auftraggeber die Plakette an die Windschutzscheibe, während dieser seiner Arbeit im Büro nachgeht. Er wählt für andere, erledigt Bankgeschäfte, fertigt Paket- und Briefsendungen ab - die Liste ist endlos.

Kein bürokratisches Hindernis ist für ihn unüberwindbar.

Ganze Unternehmen von despachantes preisen auf Schildern ihre Dienste an wie Ärzte und Anwälte. Man findet sie in den Gelben Seiten. Für die Aufgabe ist keine vorgeschriebene Ausbildung nötig. Man braucht nichts als eine flinke Zunge, Geduld und möglichst viel Unverfrorenheit.

Valdirs despachante in Corumba kannte einen Kollegen in Sao Paulo, der über Kontakte zu hohen Stellen verfügte und dafür sorgen würde, dass Nate gegen Zahlung von zweitausend Dollar ein neuer Pass ausgestellt wurde.

Jevy verbrachte die nächsten Vormittage am Fluss und half einem Bekannten bei der Reparatur einer chalana. Er behielt alles im Auge und hörte auf alles, was erzählt wurde. Kein Wort über die Frau. Am Freitag mittag war er überzeugt, dass sie zumindest in den vergangenen zwei Wochen nicht in Corumba eingetroffen war. Er kannte alle Fischer, Bootsführer und Matrosen, und jeder von ihnen redete gern. Sofern eine Amerikanerin, die bei den Indianern lebte, mit einem Mal in der Stadt aufgetaucht wäre, sie hätten es gewusst.

Nate suchte bis zum Wochenende. Er durchstreifte die Straßen, beobachtete jede Menschenansammlung, sah sich in Hotelhallen und Straßencafes um, betrachtete die Gesichter der Menschen auf der Straße, ohne eine Frau zu entdecken, die Rachel auch nur entfernt ähnlich gesehen hätte.

Um ein Uhr an seinem letzten Tag holte er sich in Valdirs Kanzlei seinen Pass ab. Sie verabschiedeten sich wie alte Freunde und versprachen, einander bald wiederzusehen. Beide wussten, dass es nie dazu kommen würde. Um zwei Uhr fuhr ihn Jevy zum Flughafen. Sie saßen eine halbe Stunde in der Abflughalle und sahen zu, wie das einzige Flugzeug entladen und für den Rückflug vorbereitet wurde. Jevy wollte eine Weile in die Vereinigten Staaten und war dazu auf Nates Hilfe angewiesen. »Ich brauche einen Job«, sagte er. Nate hörte ihm aufmerksam zu und war nicht sicher, ob er selbst noch einen Job hatte.

»Ich sehe zu, was ich tun kann.«

Sie sprachen über Colorado, den Westen und über Orte, an denen Nate nie gewesen war. Jevy war begeistert vom Gebirge, und nach zwei Wochen im Pantanal verstand Nate das. Als es Zeit war zu gehen, umarmten sie einander freundschaftlich und sagten sich Lebewohl. Nate ging über den heißen Asphalt zum Flugzeug; seine gesamte Garderobe befand sich in einer kleinen Sporttasche.

Die zwanzigsitzige Turboprop-Maschine machte bis Campo Grande zwei Zwischenlandungen. Dort stiegen die Fluggäste in ein Düsenflugzeug nach Sao Paulo um. Die Dame neben ihm ließ sich vom Getränkewagen ein Bier servieren. Nate betrachtete aufmerksam die Dose, die kaum weiter als zwei Handbreit von ihm entfernt stand. Damit ist Schluss, sagte er sich. Er schloss die Augen und bat Gott um Kraft. Er bestellte Kaffee.

Die Maschine zum Dulles Airport flog um Mitternacht ab und sollte am nächsten Morgen um neun Uhr in W a-shington eintreffen. Seine Suche nach Rachel hatte ihn fast drei Wochen lang außer Landes geführt.

Er war nicht sicher, wo sich sein Auto befand. Er hatte keine Wohnung und keine Mittel, sich eine zu beschaffen. Trotzdem machte er sich keine Sorgen. Um all das würde sich Josh kümmern.

Die Maschine ging durch die Wolken auf zweitausendsieben-hundert Meter herunter. Nate war wach, trank Kaffee und fürchtete sich vor den Straßen Washingtons. Sie waren kalt und weiß. Tiefer Schnee bedeckte sie. Während sich der Flughafen näherte, war das Bild einige Minuten lang herrlich, dann erinnerte sich Nate, wie sehr er den Winter verabscheute. Er trug eine dünne Hose, keine Socken, billige, leichte Schuhe und ein gefälschtes Marken-Polohemd, für das er am Flughafen Sao Paulo sechs Dollar bezahlt hatte. Einen Mantel hatte er nicht.

Er würde die Nacht irgendwo verbringen, vermutlich in einem Hotel, zum ersten Mal ohne Aufsicht in Washing-

ton seit dem 4. August, dem Tag, an dem er in einem Motelzimmer in einem der Vororte zusammengebrochen war. Es war das Ende eines langen, jämmerlichen Wegs nach unten gewesen. Er hatte sich große Mühe gegeben, das alles zu vergessen.

Das aber war der alte Nate gewesen. Jetzt war er ein neuer Mensch. Er war achtundvierzig Jahre alt, würde in dreizehn Monaten fünfzig werden und war zu einem anderen Leben bereit. Gott hatte ihm Kraft gegeben und ihn in seiner Entschlossenheit bestärkt. Dreißig weitere Jahre lagen vor ihm. Er würde sie weder mit leeren Flaschen in den Händen noch auf der Flucht verbringen.

Schneepflüge fuhren über das Vorfeld, während die Maschine dem Abfertigungsgebäude entgegenrollte. Die Start- und Landebahnen waren nass, und nach wie vor fiel schwerer Schnee. Als Nate die Fluggastbrücke bestieg, traf ihn der Winter mit aller Kraft, und er musste an die feuchtwarmen Straßen von Corumba denken. Josh wartete am Gepäckband und hatte selbstverständlich einen Mantel für ihn mitgebracht.