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NEUNUNDDREISSIG

Um sechs Uhr am Sonntag morgen nahm Nate seine dritte warme Dusche in vierundzwanzig Stunden und überlegte, wie er Washington möglichst rasch verlassen konnte. Eine Nacht in der Stadt hatte ihm genügt. Das Häuschen an der Bucht lockte ihn. Sechsundzwanzig Jahre war er in dieser Stadt zu Hause gewesen, jetzt, da er sich entschlossen hatte, ihr den Rücken zu kehren, konnte es ihm nicht schnell genug gehen.

Da er keine Wohnung auszuräumen hatte, ging der Umzug einfach vonstatten. Er suchte Josh und fand ihn in seinem Arbeitszimmer, wo er gerade mit einem Mandanten in Thailand telefonierte. Allem Anschein nach ging es um Erdgasvorkommen. Während Nate mithörte, war er froh, die Anwaltspraxis aufzugeben. Obwohl Josh steinreich war und zwölf Jahre älter als er, kannte er, wie es aussah, kein größeres Vergnügen, als um halb sieben am Sonntag morgen am Schreibtisch zu sitzen. Hoffentlich passiert mir das nicht, sagte Nate zu sich selbst. Doch ihm war klar, dass es nicht dazu kommen würde. Hätte er allerdings seine Arbeit in der Kanzlei wiederaufgenommen, würde es mit Sicherheit im alten Trott weitergehen. Vier Entziehungskuren bedeuteten nichts anderes, als dass die fünfte schon auf ihn wartete. Er war nicht so stark wie Josh und wäre bestimmt zehn Jahre später tot. Sich all dem zu entziehen war aufregend. Auf das unangenehme Geschäft, Ärzte wegen Kunstfehlern zu verklagen, konnte er gut verzichten, und auch der hektische Betrieb einer Kanzlei, in der es zuging wie in einem Taubenschlag, würde ihm nicht fehlen. Er hatte seine Karriere und seine Triumphe hinter sich. Der Erfolg hatte ihm nichts als Elend gebracht; er konnte nicht damit umgehen. Der Erfolg hatte ihn in die Gosse geschickt.

Jetzt, da die Schreckensvorstellung, ins Gefängnis zu müssen, von ihm genommen war, konnte er sein neues Leben genießen.

Er verließ Washington mit einen Kofferraum voll Kleidungsstücke; alles andere ließ er in einer Kiste in Joshs Garage zurück. Es hatte aufgehört zu schneien, aber die Schneepflüge hatten noch zu tun. Nach wenigen hundert Metern fiel Nate ein, dass er über fünf Monate lang kein Lenkrad in der Hand gehabt hatte. Es herrschte kaum Verkehr, und er kroch über die Wisconsin Avenue nach Chevy Chase, bis er den Beltway erreichte, der vollständig geräumt war.

Als er allein in seinem eleganten Auto saß, kam er sich allmählich wieder wie ein Amerikaner vor. Er dachte an Jevy und seinen lauten, gefährlichen Pickup. Wie lange die beiden wohl auf dem Beltway überdauern würden?

Er musste auch an Welly denken. Der Junge stammte aus einer Familie, die so arm war, dass sie nicht einmal ein Auto besaß. Nate nahm sich vor, in den nächsten Tagen Briefe zu schreiben, unter anderem einen an seine Reisegefährten aus Corumba.

Sein Blick fiel auf das Telefon. Er nahm den Hörer ab: Es schien zu funktionieren. Natürlich hatte Josh dafür gesorgt, dass die Rechnungen bezahlt wurden. Er rief Sergio zu Hause an, und sie sprachen zwanzig Minuten lang miteinander. Er musste sich Vorwürfe anhören, weil er sich nicht früher gemeldet hatte. Sergio hatte sich Sorgen gemacht. Nate schob alles darauf, dass es im Pantanal keine Telefone gab. Er berichtete ihm, dass die Dinge jetzt in eine andere Richtung gingen, es zwar verschiedene Unbekannte gebe, sein Abenteuer aber noch nicht zu Ende sei. Er werde seinen Beruf aufgeben und brauche nicht ins Gefängnis.

Sergio fragte nicht, ob er nüchtern geblieben war. Was Nate sagte, klang eindrucksvoll und ganz so, als wisse er, was er wollte. Nate gab Sergio die Telefonnummer des Hauses, in dem er wohnen würde, und sie verabredeten, demnächst einmal gemeinsam zum Mittagessen zu gehen.

Dann rief er seinen ältesten Sohn an, der in Evanston an der Northwestern University studierte, und hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Wo hielt sich ein dreiundzwanzig-jähriger Student an einem Sonntagmorgen um sieben auf? In der Frühmesse bestimmt nicht. Nate wollte es aber gar nicht so genau wissen. Was auch immer sein Sohn gerade tat, er würde sein Leben mit Sicherheit nicht so verpfuschen wie sein Vater. Seine Tochter war einundzwanzig Jahre alt und studierte, wie sie gerade Lust hatte, an der Pitt University. Bei ihrem letzten Gespräch, einen Tag bevor Nate mit einer Flasche Rum und einem Sack voll Tabletten in das bewusste Motelzimmer gezogen war, war es um ihre Studiengebühren gegangen.

Er konnte ihre Telefonnummer nicht finden.

Die Mutter seiner älteren Kinder hatte seit der Trennung von Nate zweimal wieder geheiratet. Da er sie nicht außtehen konnte, rief er sie nur an, wenn es gar nicht anders ging. Er nahm sich vor, einige Tage zu warten und sie dann um Kaitlins Telefonnummer zu bitten.

Er war entschlossen, die beschwerliche Reise nach Oregon im Westen zu unternehmen, um zumindest seine beiden Jüngsten zu besuchen. Auch deren Mutter hatte wieder geheiratet, erstaunlicherweise wieder einen Anwalt, der aber, wie es aussah, ein einwandfreies Leben führte. Nate wollte die Kinder um Verzeihung bitten und versuchen, eine neue Beziehung anzuknüpfen. Er wusste selbst nicht, wie er das bewerkstelligen sollte, nahm sich aber fest vor, den Versuch zu unternehmen.

In Annapolis hielt er an einer Imbissstube an, um zu frühstücken. Er hörte zu, wie einige Stammgäste in einer Sitznische lautstark die Wetteraussichten kommentierten, und überflog gedankenlos die Washington Post. Weder in den Schlagzeilen noch in den letzten Meldungen der Zeitung fand er etwas, das ihn auch nur im geringsten interessiert hätte. Es ging immer um dasselbe: Unruhen im Nahen Osten, Unruhen in Nordirland; Skandale im Kongress; die Aktienkurse stiegen und fielen; ein Ölteppich bedrohte das Leben im Meer; ein neues Heilmittel gegen Aids; Guerillakrieger brachten Bauern in Lateinamerika um; Chaos in Russland.

Seine Hose war ihm zu weit geworden, also aß er drei Eier mit Speck und Toast. In der Sitznische herrschte vage Übereinstimmung, dass noch mehr Schnee in der Luft lag.

Er fuhr über die Chesapeake Bay Bridge. Da die Straßen am östlichen Ufer der Bucht nicht gut geräumt waren, geriet der Jaguar zweimal ins Rutschen. Er nahm Gas weg. Der Wagen war ein Jahr alt, und er wusste nicht mehr, wann der Leasingvertrag auslief. Seine Sekretärin hatte allen Papierkram für ihn erledigt; er hatte die Farbe ausgesucht. Er beschloss, den Wagen so schnell wie möglich abzustoßen und sich ein gebrauchtes Auto mit Allrad-Antrieb zuzulegen. Früher einmal war ihm der flotte Anwaltswagen wichtig gewesen, jetzt brauchte er ihn nicht mehr.

Bei Easton bog er auf die State Route 33 ein. Der Schnee lag noch fünf Zentimeter hoch. Nate folgte den Spuren anderer Fahrzeuge und kam bald durch verschlafene kleine Ortschaften mit Häfen voller Segelboote. Das Ufer der Bucht war mit hohem Schnee bedeckt; das Wasser war tiefblau.

In St. Michaels wurde die State Route 33 für einige hundert Meter zur Hauptstraße. Zu beiden Seiten lagen Geschäfte und standen guterhaltene alte Häuser; jedes von ihnen ein Postkartenmotiv.

Den Namen St. Michaels kannte Nate schon, solange er sich erinnern konnte. In diesem Städtchen mit einer Bevölkerungszahl von eintausenddreihundert Seelen und einem geschäftigen Segelboothafen gab es ein Meeresmuseum und Dutzende niedlicher Pensionen, die an langen Wochenenden von Leuten aus der Stadt besucht wurden. Außerdem fand dort alljährlich ein Austernfest statt. Er kam am Postamt und einer kleinen Kirche vorüber, deren Eingangsstufen der Pfarrer von Schnee freischaufelte.

Joshs im viktorianischen Stil errichtetes Häuschen mit einem spitzen Doppelgiebel lag im Norden, zwei Querstraßen von der Hauptstraße entfernt, an der Green Street. Man hatte von der Veranda des schieferblau gestrichenen und weiß mit gelb abgesetzten Hauses, die sich über die ganze Vorderseite und einen Teil der Schmalseiten erstreckte, einen Blick auf den Hafen. Da die Auffahrt von einem guten halben Meter Schnee bedeckt war, stellte Nate den Wagen am Bürgersteig ab und kämpfte sich durch Schneewehen zur Haustür durch. Er trat ein und machte Licht. In einem Besenschrank nahe der Hintertür fand er eine Schneeschaufel aus Kunststoff.