Wieder schwieg der Wächter eine Weile. Die Sonne sank tiefer und verwandelte seinen Körper in einen flachen schwarzen Schattenriß, aber Skar glaubte den stechenden Blick seiner Augen selbst durch das heruntergelassene Visier seines Helmes zu fühlen. »Gut«, sagte er schließlich. »Kommt näher.«
El-tra machte eine befehlende Geste, und Skar und die anderen setzten sich in Bewegung. Ein eisiger Hauch stieg aus den Tiefen der Hellgor empor und hüllte sie ein. Skar fröstelte. Irgendwo in ihm schien sich etwas zu regen. Das Puppenstadium war fast beendet. Irgendwann, bald, vielleicht schon sehr bald, würde der Kokon aufbrechen.
Sie umrundeten den Turm, näherten sich der zerborstenen eisernen Rampe, die hinauf auf die Brücke führte, bis auf wenige Schritte und ritten dann zur Rückseite des Gebäudes. Ihre Pferde scheuten, als sie sie bis auf wenige Schritte an den jäh aufklaffenden Abgrund heranlenkten. Skar warf einen flüchtigen Blick in die Tiefe und sah dann hastig weg. Unter ihm war nichts als brodelnde Finsternis.
Auf der Rückseite des Turmes war eine schmale, mit einem zusätzlichen Eisengitter gesicherte Tür. Als sie näher kamen, wurde sie geöffnet, und der flackernde rote Lichtschein einer Fackel fiel aus dem Gebäude. Das Gitter schwang quietschend nach außen, und zwei untersetzte, in schwarzes Leder gehüllte Gestalten traten aus dem Turm.
Skar sah unauffällig nach oben. Der dritte Mann stand noch immer hinter den Zinnen und blickte zu ihnen herab. Seine Haltung verriet Anspannung. Von dem vierten Wächter war keine Spur zu sehen.
El-tra stieg aus dem Sattel, nahm mit einer raschen Bewegung seine Armbrust vom Rücken und legte sie auf Skar an, während der andere Sumpfmann sein Pferd neben ihn dirigierte und mit einem raschen Schnitt das Seil durchtrennte, das ihn am Sattel festhielt.
»Steig ab, Satai«, sagte Verion-El-tra. Seine Stimme bebte: die Stimme eines Mannes, der sich darüber im klaren ist, daß er einen gefährlichen Gegner vor sich hat.
Skar nickte, stieg umständlich aus dem Sattel und trat mit hängenden Schultern auf die beiden Turmwächter zu.
»Seid vorsichtig«, mahnte El-tra. »Er ist gefährlich. Immer noch.«
Skar warf dem Sumpfmann einen wütenden Blick zu. Für seinen Geschmack spielte er seine Rolle fast zu gut. Aber vielleicht spielte er sie ja auch gar nicht.
Die beiden Männer zogen ihre Schwerter aus den Gürteln und glitten hastig ein paar Schritte auseinander, so daß er, sogar wenn er selbstmöderisch genug gewesen wäre, einen Angriff zu versuchen, nur einen von ihnen hätte überraschen können, ehe ihm der andere sein Schwert in den Leib gerammt hätte.
»Was ist mit dieser Sumpfbestie?« fragte einer der Wächter. El-tra zuckte betont gelassen die Achseln. »Er stirbt«, sagte er. »Du hättest ihn töten sollen.«
»Mag sein. Aber vielleicht lebt er lange genug, daß wir ihn zu Tantor bringen können. Er wollte die Gefangenen lebend haben.«
»Nicht die Gefangenen«, verbesserte ihn der Wächter. »Nur ihn.« Er deutete mit der freien Hand auf Skar, überlegte einen Moment und wies dann mit einer Kopfbewegung auf den Turm. »Nun gut. Vielleicht war es richtig, so zu handeln. Das sollen andere entscheiden. Bringt sie erst einmal herein. Larn wird sich um euere Pferde kümmern. Kommt.«
Er wandte sich mit einer abgehackten Bewegung um und verschwand im Inneren des Gebäudes. Skar stolperte - ermuntert durch einen rüden Stoß El-tras - hinterher, während der zweite Sumpfmann Gowenna wie eine gewichtslose Stoffpuppe aus dem Sattel hob und sich über die Schulter legte. Der zweite Wächter steckte seine Waffe zurück und nahm El-tras Pferd beim Zügel. Skar spannte sich. Seine Rechte schloß sich fester um den fünfzackigen Metallstern, der darin verborgen war.
»Noch nicht«, raunte El-tras Stimme an seinem Ohr. Skar nickte unmerklich.
Hintereinander betraten sie den Turm. Sein Inneres war größer, als es von außen den Anschein gehabt hatte; der schwarze Stein, aus dem er erbaut worden war, und die gedrungene, wehrhafte Form suggerierten eine Beengtheit, von der hier drinnen nichts mehr zu spüren war. Ein halbes Dutzend blakender Fackeln erfüllten die Luft mit beißendem Rauch, der nur träge abzog. Vor der gegenüberliegenden Wand gab es vier schmale, strohgedeckte Pritschen, davor einen niedrigen Tisch mit vier Schemeln, außerdem einen offenen Schrank, in dem sich Geschirr und Vorrate stapelten. Über das Glas des Bodens war Erdreich gestreut und festgestampft worden, nur hier und da lugte ein winziger Splitter der brüchigen grünen Leichendecke Tuans hervor. El-tra versetzte Skar einen Stoß, der ihn durch den Raum und vor den Tisch taumeln ließ, trat vom Eingang zurück und gab seinem Bruder ein Zeichen, nachzukommen. Wie durch Zufall stand er dadurch so, daß er den beiden Soldaten den Blick auf die reglose Gestalt über El-tras Schulter verwehrte.
»Leg den Schlammfresser auf eines der Betten«, befahl der Krieger, der schon draußen das Wort geführt hatte; offenbar der Kommandant der Wachgruppe.
Bren El-tra nickte stumm, schob sich rasch an ihm vorüber und lud Gowenna unsanft auf einer Liege ab. Ihr Gesicht war zur Wand gedreht.
»Ich helfe Larn bei den Pferden«, sagte er. Ohne eine Antwort des Offiziers abzuwarten, wandte er sich um, verließ den Turm und warf die Tür hinter sich zu.
Skar tauschte einen fragenden Blick mit Verion-El-tra. Der Sumpfmann deutete ein Kopfschütteln an. Skar begriff. Sie hatten zwei der Wächter vor sich. El-tra würde sich um den dritten kümmern. Aber einer von Velas Soldaten war noch immer oben auf dem Dach des Turmes - und der einzige Weg dort hinauf führte über eine schmale, nahezu senkrechte Treppe, die unter einer massiven Eisenklappe endete. Sie mußten warten, bis er herunterkam.
Der Offizier sah ihn aus mißtrauisch zusammengekniffenen Augen an. Er hatte ein schmales, pockennarbiges Gesicht, das von grauen Strähnen ungepflegten Haares eingerahmt war. Um seinen Mund lag ein grausamer Zug. Als er näherkam und Skar im Licht der Fackeln betrachtete, sah Skar eine glänzende, münzgroße Stelle über seinem linken Auge. In ihrem Zentrum saß ein winziger roter Punkt.
»Du bist also dieser Satai«, sagte er abfällig. »Skar. Das war doch dein Name, oder?«
»Warum fragst du, wenn du es weißt?« gab Skar patzig zurück. Der Offizier stieß ein wütendes Zischen aus, hob die Hand und trat einen Schritt auf ihn zu, aber Verion hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück. »Nicht, Crom«, sagte er eilig. »Er ist gefährlich. Wenn du ihm eine Chance gibst, tötet er dich.«
»Unsinn.« Crom riß seine Hand mit einem Ruck los, bedachte El-tra mit einem ärgerlichen Blick und baute sich breitbeinig vor Skar aus. Aber ein Teil seiner Überheblichkeit war aus seiner Stimme gewichen.
»Wo ist dieses Weib?« fragte er.
Skar verzog geringschätzig die Lippen und sah demonstrativ weg.
»Sie muß tot sein«, sagte El-tra.
»Tot?« Crom legte den Kopf auf die Stelle und musterte Skar aus kleinen, tückischen Augen. »Stimmt das?«
»Von ihm erfährst du kein Wort«, sagte El-tra.
»Und woher weißt du es dann?«
»Wir haben sie überrascht, Crom. Er und der Sumpfmann« - damit deutete er auf Gowenna, die noch immer reglos und wie tot auf der Pritsche lag - »schliefen. Sie hatten drei Pferde und drei Lagerstellen.«
»Geschlafen habt ihr, so?« Crom lachte. Ein leiser, unangenehmer Laut. »Ein Satai, der sich im Schlaf überraschen läßt«, fuhr er kopfschüttelnd fort. »Eigentlich sollte ich enttäuscht sein. Man hört Wunderdinge von euch, und dann laßt ihr euch im Schlaf gefangennehmen.« Er schüttelte noch einmal den Kopf, drehte sich um und schlenderte auf Gowenna zu. Skar hielt instinktiv den Atem an.
»Sei lieber froh, daß er geschlafen hat«, sagte Verion-El-tra hastig. »Sonst wären wir nämlich jetzt tot. Wir hatten Mühe, mit den Sumpfleuten fertig zu werden.«