Ein Schlag vor die Stirn hätte Skar nicht härter treffen können. »Das... das ist nicht wahr«, stammelte er hilflos. »Du lügst!« Gowenna lachte abfällig. »Es ist wahr. Wir haben ihre Leichen gefunden. Wahrscheinlich ist er jetzt bereits bei Vela und erklärt ihr den Weg hierher in allen Einzelheiten.«
»Aber das ist unmöglich!« keuchte Skar. Sein Schreck begann sich in Entsetzen zu verwandeln. Sein Herz pochte, jeder Schlag war ein dünner, blitzender Schmerz, der ihn zusammenzucken ließ.
»Warum sollte es unmöglich sein?« fuhr Gowenna gnadenlos fort. »Nur weil sie Sumpfmänner waren und er nur ein gewöhnlicher Mensch? Du vergißt anscheinend, daß Del dein Schüler ist, dein bester Schüler, Skar. Einem Mann wie ihm dürfte es nicht schwerfallen, vier Ahnungslose zu ermorden. Selbst wenn sie Sumpfmänner sind.«
»Das glaube ich einfach nicht«, sagte Skar hilflos. »Del ist kein Mörder.«
»Du glaubst es nicht? Warum? Weil du dann zugeben müßtest, daß dich die Schuld am Tod der vier Sumpfbrüder trifft? Oder weil es dein Stolz nicht zuläßt, einzugestehen, daß du einen Fehler begangen hast?«
»Aber Del -«
»Der Del, den du kanntest, existiert nicht mehr, Skar«, unterbrach ihn Gowenna. »Er starb in Ikne, im ersten Augenblick, in dem er Vela gegenüberstand. Du hattest die Chance, ihn wieder zum Leben zu erwecken, aber du wolltest es ja nicht.« Sie schwieg einen Moment, erregt und schnell, beinahe hastig atmend. Sie war erschöpft gewesen, als sie vom Pferd stieg, und die kurze Rede hatte sie noch mehr Kraft gekostet. Skar sah, daß ihre Hände zitterten. »Du kannst ihn selbst fragen, Skar«, fuhr sie fort. »Er wird hierherkommen, schon bald. Vielleicht bist du bereit, mir zu glauben, wenn Vela mit ihren Kriegern und ihrem Drachen auf diese Lichtung gestürmt kommt. Sie sind auf dem Weg hierher.«
»Sie -«
»Das war der Grund für mein Fortgehen«, sagte Gowenna ein wenig ruhiger, aber noch immer erregt. »Ich wollte mich selbst davon überzeugen, was sie tat. Sie hat den Kristallwald umgangen und die Grenzen von Cosh überschritten. Sie, der Drachen und vierzig Krieger, die ihr geblieben sind. Wenn wir sie nicht aufhalten, ist sie morgen bei Sonnenuntergang hier.«
Skar suchte vergeblich nach Worten. Es war zuviel, selbst für ihn. Er wußte, daß Gowenna die Wahrheit sprach, und trotzdem glaubte er ihr nicht. Allein die Vorstellung, daß jemand die Sumpfleute in ihrem ureigensten Gebiet angreifen sollte, erschien ihm lächerlich. Er wußte, obwohl vor ihm wohl weniger als ein Dutzend Menschen überhaupt so tief in das Geheimnis von Cosh vorgedrungen war, noch immer so gut wie nichts über das Volk der Sumpfleute, aber die Wälder und Moore, die die Lichtung wie ein schützender Wall umgaben, erschienen ihm wie das Sinnbild der Stärke, Sicherheit und Unangreifbarkeit. Den Krieg nach Cosh tragen zu wollen, das war für ihn das gleiche, wie den Winter oder die Wüste bekämpfen zu wollen: unmöglich, schlicht und einfach unmöglich.
Und doch hatte sie es getan.
Und sie war der einzige Mensch auf der Welt, dem er zutraute, dieses Unternehmen sogar erfolgreich abschließen zu können. »Was werdet... ihr tun?« fragte er stockend.
Es war El-tra, der anstelle von Gowenna antwortete. »Wir werden sie vernichten, Skar. Wir werden sie und jeden, der in ihrer Begleitung ist, töten. Noch heute.«
Skar nickte. Natürlich hatte er die Antwort gewußt. »Ich werde euch begleiten«, murmelte er.
El-tra zögerte einen Moment. »Du mußt es nicht«, sagte er leise. »Du weißt, daß Del bei ihr sein wird, und -«
»Ich weiß!« unterbrach ihn Skar. Seine Stimme war leise, stand aber trotzdem dicht davor, überzukippen. Ohne es zu merken, hatte er die Fäuste geballt. Er hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, etwas zu zerstören, zu zerschlagen. Irgend etwas. »Ich weiß, daß ihr es ehrlich meint, und ich danke euch«, fuhr er fort. »Aber ich muß es tun. Es war mein Fehler. Ich hätte Del niemals hierherbringen dürfen. Wann ... brecht ihr auf?«
»So rasch wie möglich«, sagte El-tra. »Sie ist bereits tief in die Sümpfe vorgedrungen, und sie zieht eine Bahn der Vernichtung. Wir müssen sie aufhalten, ehe der Schaden, den sie anrichtet, zu groß geworden ist. Ich werde Kor-tel zu dir schicken, damit er deine Verbände wechselt. Damit« - er deutete auf Skars dick bandagierte Waden - »kannst du nicht reiten.«
El-tra entfernte sich, und Skar und Gowenna blieben allein zurück. Auf dem Platz begann sich eine hektische Aktivität zu entfalten, obwohl Skar nicht erkennen konnte, was die Sumpfleute im einzelnen taten. Er sah eine Weile zu, drehte sich dann um und ging in die Hütte zurück. Gowenna folgte ihm nach kurzem Zögern, aber er beachtete sie gar nicht. Vorsichtig und mit zusammengebissenen Zähnen begann er die Verbände von seinen Beinen abzuwickeln. Ein paar der Schnitte rissen wieder auf und bluteten, aber diesmal begrüßte er den Schmerz, konzentrierte sich ganz auf das schneidende Brennen, das ihn wenigstens für Sekunden von der Qual in seinem Inneren ablenkte. Er setzte sich, griff nach der Wasserschale und begann ungeschickt das frische Blut von seiner Haut zu tupfen. Gowenna sah ihm eine Weile zu, kniete dann wortlos vor ihm nieder und nahm ihm das Tuch aus der Hand. Er ließ es geschehen, aber es bedeutete jetzt nichts mehr. Wenn sie ihm half, dann nicht mehr aus Mitleid oder gar Liebe, sondern nur, um ihn auf den Kampf vorzubereiten. Sie versorgte einen Krieger, keinen Freund. Vela hätte dasselbe für einen ihrer Puppensoldaten getan, hätte er ihre Hilfe benötigt.
»Wo werden sie ihre Truppen sammeln?« fragte er nach einer Weile.
Gowenna tauchte das Tuch ins Wasser, schwenkte es ein paarmal hin und her und wrang es sorgfältig aus. Ihre Bewegungen waren schnell und sicher; die routinierten Hände einer Heilerin, die dasselbe schon tausend Mal getan hatten. »Welche Truppen?« fragte sie, ohne ihn anzusehen.
»Die der Sumpfleute.«
»Truppen ...« Gowenna betonte das Wort auf eine Art, die ein Alarmsignal in Skar auslöste. »Sie haben keine Truppen, Skar.«
»Keine ...« Skar schluckte verblüfft und sah unwillkürlich zum Ausgang, aber hinter dem niedrigen Rechteck waren nur Dunkelheit und das gelegentliche Flackern einer Fackel zu erkennen. Gowenna setzte sich auf, legte die Hände flach nebeneinander auf die Oberschenkel und sah ihn fest an.
»Es gibt keine Truppen, Skar«, sagte sie noch einmal. »Das, was du dort draußen gesehen hast, war das Volk der Sumpfleute.« Skar begriff nur langsam, widerwillig.
»Sie sind wenige«, fuhr Gowenna fort. »Sie waren nie viele, und in den letzten Jahren ist ihre Zahl weiter gesunken. Vielleicht leben noch einmal so viele verstreut in den Sümpfen, aber ich glaube nicht, daß ihre Zahl die Hundert überschreitet. Warum, glaubst du, verlassen sie so selten diese Sümpfe?«
»Nur hundert...«, murmelte Skar.
»Nur hundert«, bestätigte Gowenna. »Und die Hälfte von ihnen wird vielleicht sterben, bevor die Sonne aufgeht. Es geht hier nicht um verletzten Stolz, Skar. Es ist ein Kampf ums Überleben. Das Überleben eines ganzen Volkes!«
Skar starrte sie weiter ungläubig an. »Nur hundert...«, sagte er zum dritten Mal, noch immer ungläubig, schockiert.
»Sie waren niemals ein großes Volk, Skar«, sagte Gowenna leise. Ihr Tonfall klang jetzt fast versöhnlich, aber Skar wußte, daß das nur an den Worten lag, die sie sprach. Es war nicht das, was sie fühlte. »Die Legende von ihrer Unbesiegbarkeit war ihr Schutz; eine Festung aus Mythen und Legenden, hinter der sie sicher waren. Sie haben sie sorgsam gepflegt. Aber vielleicht endet dieser Mythos morgen.« Sie seufzte, beugte sich wieder herab und begann, einen frischen Verband um Skars Beine zu wickeln; dünn und sehr eng anliegend diesmal, so daß er darüber noch seine Stiefel tragen konnte.