Das Gefängnis war leer! Der Dämon war frei!!
Skar trat mit zitternden Händen und Knien näher an den zerborstenen Altar heran. Was er für einen massiven Steinquader gehalten hatte, war nur eine dünne Platte gewesen, unter der ein gewaltiges, halbrundes Loch in der Erde gähnte, ein Schacht, der tief in die Erde hineinführte und der aus dem gewachsenen Felsen herausgeschmolzen war. Flüssiges Gestein war wie Wachs an seinen Rändern heruntergelaufen und zu bizarren Formen erstarrt, und die Hitze war selbst jetzt noch so groß, daß es Skar nicht möglich war, sich ihm weiter als auf fünf, sechs Schritte zu nähern. Skar versuchte vergeblich, sich die Gewalten vorzustellen, die fähig waren, so etwas anzurichten.
»Mein Gott!« flüsterte Anschi hinter ihm. Ihre Stimme zitterte. Sie klang, als würde sie gleich brechen. »Es ... es ist frei! Diese Wahnsinnigen haben es entkommen lassen!«
»Ja«, sagte Skar leise. »Und es ist meine Schuld. Ich habe Ennart gezeigt, was es wirklich ist, Anschi.«
»Red keinen Unsinn«, schnappte Anschi, eine Spur zu laut und eine Spur zu heftig, um wirklich überzeugend zu klingen. »Wenn es überhaupt irgend jemandes Schuld ist, dann höchstens die jener Narren selbst! Und sie haben dafür bezahlt.« Sie deutete mit der Spitze ihres Schwertes auf eine reglose Gestalt, die kaum einen Schritt vor Skar auf dem Boden lag, ohne daß er sie bisher auch nur bemerkt hätte.
Widerstrebend senkte er den Blick, sah einen Moment auf das geschwärzte Etwas herab, das einmal ein Mensch gewesen war, und schloß stöhnend die Augen.
Der Zauberpriester war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, als wäre das, was den Felsen geschmolzen und aus seinem Altar gebrochen war, direkt über ihn hinweggewalzt. Skar erkannte ihn überhaupt nur an einem Fetzen seines schwarzen Gewandes, der als einziges nicht zu schwarzer Schlacke zusammengeschmort war. Er, und (und das war vielleicht das Entsetzlichste überhaupt) seine Hände.
Sie waren vollkommen unversehrt, und sie umklammerten noch immer die Waffe, mit der er sich vergeblich gegen seinen Mörder zu wehren versucht hatte. Ob der Mann noch begriffen haben mochte, wie gräßlich der Irrtum war, dem er erlag? Skar wußte es nicht, aber allein dieser Gedanke reichte aus, die Erinnerung an das in ihm aufsteigen zu lassen, was er gespürt hatte, als er das erste Mal hier stand. Selbst bei der bloßen Erinnerung an die Kälte und Fremdartigkeit dieses unendlich alten, unendlich bösen Ortes durchfuhr ihn ein eisiger Schauer.
Anschi berührte ihn an der Schulter und deutete auf einen Punkt hinter ihm. Skar wandte sich mühsam um und sah erst jetzt, daß auch die jenseitige Wand des Tempels verschwunden war, niedergebrochen, zerschmolzen und wie von der Faust eines Gottes zu Staub zerschlagen, als wäre das Ungeheuer einfach weitergerannt, nachdem es den Zauberpriester und seine Kameraden draußen in Ennarts Kammer getötet hatte. Dahinter loderte rotes Licht, in dem Staub tanzte, und verschwommen die Wände und Nischen eines weiteren Ganges sichtbar waren. Sie bestanden aus Stein und führten in sanfter Neigung abwärts. Der Tempel mußte größer gewesen sein, als selbst Ennart geahnt hatte.
Ohne daß einer von ihnen auch nur ein Wort sprach, wandten sie sich um und verließen die Kammer auf diesem Wege. Sie mußten aufpassen, denn der Fels war auch hier noch immer so heiß, daß sie sich mit Sicherheit schwere Verbrennungen zugefügt hätten, hätten sie ihn auch nur flüchtig berührt, und kaum hatte Skar sich hinter Anschi durch das runde Loch hindurchgebückt, da blieb die Errish auch schon wieder stehen und stieß abermals erschrocken die Luft aus.
Vor ihnen war die Spur des Dämons.
Aber es waren nicht die Fußabdrücke eines lebenden Wesens, ganz gleich welches. Es war eine Spur aus Feuer. Eine Reihe kleiner, in regelmäßigen Abständen verlaufender Tümpel aus Flammen, wo der Boden zu weißlodernder Lava geschmolzen war unter der Glut dessen, was über ihn hinwegschritt! Schnurgerade zog sie sich vor Anschi und Skar dahin und verschwand in schwer zu schätzender Entfernung hinter einer Biegung des Ganges.
Skars Hände begannen zu zittern. Er hatte das Gefühl, daß ihn von einer Sekunde zur anderen alle Kraft verließ, jedes bißchen Mut, das er jemals besessen hatte. Sie wollten dem Etwas folgen, das diese Fußabdrücke hinterlassen hatte?! dachte er hysterisch. Lächerlich! Das war ... einfach lächerlich!
Dann dachte er an den toten Zauberpriester hinter ihnen, an den geschmolzenen Fels und die entsetzliche innere Kälte, die er in der Nähe des Ungeheuers gespürt hatte, und an die ahnungslose Welt mit ihren ahnungslosen Menschen, die über ihnen war, und plötzlich kam ihm seine Angst schäbig und feige vor. Er wußte nicht, ob es überhaupt jemanden gab, der in der Lage war, den Dämon aufzuhalten, und schon gar nicht, ob er dieser Jemand war, aber wenn es auch nur den Hauch einer Chance gab, daß er es war, dann mußte er es versuchen.
»Wohin mag dieser Gang führen?« fragte Anschi. Sie flüsterte nur, aber die Wände warfen ihre Worte als tausendfach gebrochenes, verzerrtes Echo zurück, als wäre da außer ihnen und dem Feuer noch etwas, das sie auffing und wiederholte.
Skar zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Und ich glaube, auch Ennart hätte es nicht gewußt.« Vielleicht hatten nicht einmal die, die diesen Turm gebaut hatten, etwas von der Existenz dieses Ganges geahnt.
Langsam folgten sie der Spur des Ungeheuers. Skar fragte sich vergeblich, wie sie den Dämon aufhalten wollten, sollte es ihnen wirklich gelingen, ihn einzuholen und zu stellen, aber er zögerte nicht einmal im Schritt, während er langsam vor Anschi herging. Der Tunnel zog sich scheinbar endlos dahin, und es zeigte sich, daß sie sich tatsächlich in einem Teil der Katakomben befanden, der zu dem unterirdischen Tempel gehörte; auch hier waren die Wände mit Bildern und Schriftzeichen übersät, deren bloßes Betrachten ihm Unbehagen bereitete. In unregelmäßigen Abständen waren Nischen in den schwarzen Fels eingelassen, manche leer, andere halb eingestürzt und mit Schutt und Trümmern gefüllt, in wieder anderen standen wuchtige, meterhohe Marmorsäulen, die kleine, bizarr anmutende Statuen trugen, Viele davon ähnelten Menschen oder Tiergestalten, andere trugen schreckliche Kreaturen, die Skar nur flüchtig betrachtete, ehe er entsetzt und angewidert wegsah. Er versuchte sich vergeblich einzureden, daß es sich nur um bloße Phantasiegeschöpfe handeln konnte.
Wie schon beim ersten Mal, als er mit Ennart hier unten gewesen war, kam sein Zeitgefühl durcheinander. Er konnte nicht mehr sagen, ob sie seit zehn Minuten oder seit zehn Stunden durch die von rotem Licht erfüllten Gänge liefen, als der Stollen plötzlich vor ihnen endete. Es gab keine Abzweigungen oder Türen, sondern nur eine glatte Wand aus glasiertem schwarzem Stein. Die feurige Spur des Dämons endete vor einem ausgezackten, doppelt mannshohen Loch im Fels, dessen Ränder hier und da noch immer in düsterem Rot glühten. Sie mußten ihm jetzt sehr nahe sein.
Anschi blieb stehen. »Vorsichtig jetzt«, flüsterte sie. »Er kann nicht mehr weit sein. Ich ... spüre etwas.«
Skar nickte. Seine Linke glitt zum Gürtel und tastete hilfesuchend nach dem Schwert, obwohl er wußte, wie wenig ihm die Waffe nutzen würde, gegen die Kreatur, die Ennart erweckt hatte. Er fühlte, daß Anschi recht hatte, denn er spürte dasselbe wie sie: Die Nähe des Dämons.
Es war das gleiche Gefühl grauenerregender Kälte und entsetzlicher Bosheit, das er gestern gehabt hatte, als er den Kristall betrachtete; das Gefühl, etwas ungeheuer Altem und unglaublich Gnadenlosem gegenüberzustehen, einem Etwas, dessen bloße Nähe ausreichte, ihn sich klein und hilflos wie einen Wurm fühlen zu lassen, gegen das selbst das Etwas in ihm klein und lächerlich war. Er hatte Angst. Als er weiterging, rührte sich Anschi nicht.
Skar bemerkte ihr Zögern, drehte sich herum und sah sie ernst an. »Wir können nicht mehr zurück«, sagte er einfach. Keine Beschwörungen, keine Bitte. Kein Befehl. Nur diese fünf Worte. Und doch bewirkten sie mehr, als alle Beschwörungen und alles Flehen es gekonnt hätte, denn sie waren die Wahrheit. Sie konnten nicht zurück, selbst wenn sie es gewollt hätten. Wenn sie es auch nur versuchten, das wußte Skar, dann würde der Dämon sie auf der Stelle töten.