Sie setzten ihren Weg fort, schneller als bisher. Ihr Lager hatte sich in der Mitte des nördlichen Seeufers befunden; sie bogen bald um den obern, westlichen Teil des Sees. Dann hörte die Lichtung auf und der Wald begann wieder. Er bildete hier einen dunkeln Streifen, welcher einige hundert Schritte breit sein mochte. Sie ließen ihn linker Hand liegen und eilten an seinem äußern Rande nun in östlicher Richtung hin, denn sie befanden sich nun am südlichen Ufer. Sie waren da noch gar nicht weit gekommen, so blieb der junge Inka mit vorwärts gebeugtem Oberkörper stehen. Er hatte die Haltung eines angestrengt Lauschenden eingenommen. Es hatte sich ein ziemlich scharfer Wind erhoben, welcher ihnen gerade entgegenwehte.
»Hörst du etwas?« fragte Anton.
»Ja,«
»Was?«
»Ich glaube, es ist eine Glocke gewesen.«
»Eine Glocke? Es gibt doch hier keine Stadt mit Kirchenglocken.«
»Diese Art meinte ich nicht. Komm noch eine kurze Strecke weiter, so wirst du es auch hören.«
Sie schritten wieder vorwärts, diesmal aber langsamer als vorher. Bald war ein vom Winde herübergewehter metallener Ton zu hören.
»Horch!« sagte Anton. »Jetzt habe ich es gehört. Es klang beinahe wie die Glocke einer Madrina.«
Madrina ist ein dem spanischen Amerika eigentümlicher Ausdruck. Man versteht unter demselben die Stute, welche bei Herden oder auf Reisen die andern Tiere führt. Sie trägt eine Glocke am Halse, deren Ton die übrigen stets folgen.
»Ja, es kann nichts andres sein, als eine Madrina,« stimmte der junge Inka bei.
»Sollten sich Arrieros Maultiertreiber. hier im Gran Chaco befinden?«
»Nein, gewiß nicht. Durch diese Gegend ziehen keine Handelskarawanen. Es werden Indianer sein.«
»Von welchem Stamme?«
»Ich weiß es nicht, denke aber, es zu erfahren.«
»Dann sind diese Menschen sehr unvorsichtig. Die einzelnen Völker leben, wie wir gehört haben, jetzt in Feindschaft miteinander. Da hängt man doch den Tieren keine Glocken um, welche zu Verrätern werden müssen!«
»Die Leute, welche sich hier befinden, werden sich so sicher fühlen, daß sie nicht glauben, solche Vorsicht anwenden zu müssen. Auch müssen sie ihre Tiere weiden lassen und dürfen sie also nicht anbinden. Hätten sie keine Madrina dabei, so würden die Pferde nach allen Richtungen auseinander laufen.«
»Wieso? Die unsrigen bleiben doch auch beisammen.«
»Das ist etwas ganz andres. Der Indianer ist kein Pferdezüchter; er raubt und stiehlt die Tiere aus allen Gegenden zusammen. Sie kennen sich also nicht, und da sie nicht in Herden gehalten werden, so haben sie keine Anhänglichkeit zu einander. Treffen dann auf einem Kriegszuge viele Reiter zusammen, so müssen sie ihren Pferden eine Madrina geben, denn jedes Roß gehorcht der Glocke unbedingt. Das ist von großem Vorteil für uns, denn der Ton, welchen wir gehört haben, wird uns als Wegweiser dienen.«
Es war so, wie er sagte, denn je weiter sie kamen, desto deutlicher war der Ton der Halsschelle zu hören.
Bald mußten sie ihre Schritte noch mehr hemmen, da der Klang nun aus großer Nähe kam. Zugleich waren links die Stämme des Waldes zu sehen, da hinter demselben mehrere Feuer brannten, in deren Schein sich die Bäume deutlich hervorhoben.
»Sieh, wie leicht wir das Lager gefunden haben,« flüsterte Haukaropora Anton zu.
»Vor uns liegt der sich um den Wald ziehende Grasstreifen; auf ihm weiden die Pferde. Links von uns sticht er in den Wald hinein und bildet da eine offene Stelle, auf welcher sich die Quelle befindet. Wir haben also die Pferde gerade vor uns und die Reiter links hinter den Bäumen.«
»So müssen wir in dieser letzteren Richtung weiter?«
»Ja, aber nicht sogleich. Wir haben alle Ursache, vorsichtig zu sein, und so will ich erst sehen, ob sich Wächter bei den Pferden befinden. Warte hier, bis ich zurückkehre!«
Er schlich sich davon, und Anton stand allein, wohl über eine Viertelstunde lang, dennoch wurde ihm um den Inka nicht bange, denn er fühlte ein solches Vertrauen zu dessen Tüchtigkeit, daß es ihm gar nicht beikam, Angst um ihn zu haben. Nach dieser Zeit tauchte der Inka wieder aus dem Dunkel auf und meldete mit leiser Stimme:
»Es war kein einziger Wächter da. Die Pferde waren alle so zutraulich, daß sie sich von mir streicheln ließen.
Sie gingen frei im Grase, und nur der Madrina sind die Vorderbeine leicht gefesselt, damit sie keine weiten Schritte machen kann.«
»Wie viele Pferde waren es?«
»Ich konnte sie natürlich nicht zählen, ich merkte aber, daß es nicht wenige sind. Ich fand sie alle mit den Köpfen nach der Madrina gerichtet und habe mich sehr darüber gefreut.«
»Warum?«
»Weil dies ein Zeichen ist, daß sie ihr unbedingt folgen werden.«
»Und darüber freust du dich?«
»Ja, denn wenn es etwa feindliche Indianer, also Abipones sind, so möchte ich ihnen ihre Pferde nehmen.«
»Ist das dein Ernst? So viele Tiere können wir zwei unmöglich fortbringen!«
»Warum nicht? Wenn wir die Madrina mit uns führen, laufen die andern alle hinterdrein.«
»Aber die Indianer würden am Klange der Glocke hören, daß die Stute sich entfernt!«
»Wenn man schläft, hört man das nicht, und du gibst doch wohl zu, daß diese Leute schlafen werden?«
»Ja; aber Wachen haben sie jedenfalls ausgestellt.«
»Allerdings; aber da sie, wie ich vermute, sich hier so sicher fühlen, werden die Wächter nicht zahlreich sein.
Wir werden das gleich zu erfahren suchen. Komm, und halte dich stets hinter mir! Wir dürfen nicht mehr gehen, sondern müssen kriechen, damit wir nicht bemerkt werden.«
Sie legten sich auf die Erde nieder und bewegten sich nun mit äußerster Vorsicht von ihrer bisherigen Richtung ab nach links hinüber, um unter die erwähnten Bäume zu gelangen. Als sie dieselben erreicht hatten, befanden sie sich zugleich ganz nahe dem Rande der offenen Waldlücke, in welcher der Inka das Lager vermutet hatte. Diese Lücke war nicht breit, und die Feuer leuchteten von einem Ende derselben bis zum andern. Man sah also genau, was dort vorging. Die beiden Jünglinge lagen hinter zwei nahe beieinander stehenden Bäumen und beobachteten mit scharfen Augen, was da vor ihnen vorging.
Es war eine sehr zahlreiche Schar von Indianern, welche ihr Nachtlager aufgeschlagen hatte. Da, wo die Lichtung sich gegen das freie Land öffnete, drang die Quelle aus dem Boden, um ihr Wasser links nach dem See zu schicken. Zu beiden Seiten dieses Wasserlaufes brannten acht Feuer, um welche sich wohl gegen achtzig Rote bewegten, denn sie waren soeben beschäftigt, sich die bequemsten Stellen zum Schlafen zu suchen. Zwischen zwei Feuern, welche diesseits des Wassers brannten, lagen sechs Gestalten, welche gefesselt zu sein schienen. Fünf von ihnen waren wie Indianer gekleidet; den Sechsten konnte man seinem Anzuge nach für einen Weißen halten. Da sie mit den Köpfen nach den zwei heimlichen Beobachtern zu lagen, war es diesen unmöglich, die Gesichter zu sehen.
Diese Schar war indianisch bewaffnet. Sie hatte an den in der Erde steckenden langen Lanzen ihre Köcher und Bogen aufgehängt. Daran lehnten die Blasrohre, deren kleine Geschosse, wenn sie vergiftet sind, so schnell tödlich wirken. Drüben stand unter einem Baume der einzige, welcher ein Gewehr besaß; er hatte es neben sich auf seinem Poncho liegen und schien der Häuptling zu sein, denn er erteilte soeben verschiedene Weisungen, denen sofort nachgekommen wurde. Er bediente sich dabei einer Sprache, welche einen singenden Tonfall hatte. Anton verstand kein Wort davon und fragte darum seinen Gefährten leise:
»Das ist nicht Ketschua und auch nichts andres, was ich verstehe. Welche Sprache redet der Mann?«
»Es ist Abiponisch; ich verstehe es ziemlich. Er ist der Anführer dieser Leute, er sagt ihnen, wie sie lagern sollen, und hat soeben befohlen, daß die Nacht in drei Wachen geteilt wird. Jede dieser Wachen betrifft nur zwei Personen, von denen die eine den Pferden und die andre den Gefangenen ihre Aufmerksamkeit zu schenken hat.«