Die Rinder bildeten ihre Kreise in der entgegengesetzten Weise, nämlich mit den Köpfen nach außen. Dies erklärt sich dadurch, daß die ersteren sich mit den Hinterhufen, die letzteren aber mit den Hörnern verteidigen. Es mußte ein Raubtier in der Nähe sein und zwar ein größeres. Da er kein Gewehr bei sich hatte, so rief er mit lauter Stimme in das Dorf zurück:
»Cuidado, Señores! Bringt die Gewehre; es ist ein Jaguar da!«
Er stieß diesen Ruf nicht aus Furcht aus. Daß er sich auch ohne Gewehr nicht fürchtete, bewies er dadurch, daß er ruhig weiterging. Nur hatte er das Dolchmesser gezogen, um im geeigneten Augenblicke die Klinge bereit zu haben. Seine laute, weithin schallende Stimme war nicht nur in das Dorf zurück-, sondern auch über den ganzen großen Weideplatz gedrungen und da an die Ohren von zwei Personen, denen das sonderbare Verhalten der Tiere noch gar nicht aufgefallen war.
Diese beiden Personen waren Anton Engelhardt und der Inka. Die Freundschaft der beiden Jünglinge war während der letzten Tage womöglich noch inniger geworden, als sie vorher gewesen war. Sie hielten, wie auch schon früher, stets zu einander. Da mußte Anton von seiner Heimat erzählen, nicht von Peru, sondern von Deutschland, woher seine Eltern stammten, von andern Ländern, von deren Bewohnern und ihren Verhältnissen. Er hatte einen sehr guten Unterricht genossen und viel gelernt; darum konnte er dem Freunde sehr wohl die gewünschte Auskunft geben. Sie hatten von den Religionen der verschiedenen Völker gesprochen, von ihren Regierungsformen, ihren Herrschern und deren Machtbefugnissen, von den Streitkräften und den Verheerungen, welche die gegenwärtigen Waffen anzurichten im stande sind. Je mehr der junge Inka gehört hatte, desto einsilbiger und nachdenklicher war er geworden. Er begann mehr und mehr einzusehen, daß der Traum, den er bisher geträumt hatte, eben nur ein Traum sei und ein solcher bleiben werde.
Es fiel ihm nicht ein, seinem alten Anciano etwas davon zu sagen. Er wollte den treuen Beschützer nicht kränken.
Heute, als die Beratung begann, hatten sie geglaubt, zu jung zu sein, um an derselben teilzunehmen. Es hätte ihnen niemand verwehrt, bei den Alten zu sitzen, um zuzuhören und auch wohl ein Wort zu sagen, dennoch hielten sie es in ihrer berechtigten Bescheidenheit für geraten, fern zu bleiben, und so hatten sie, sich Hand in Hand führend, einen Spaziergang unternommen. Sie kamen nach der Weide hinaus und gingen in nicht allzu großer Ferne vom Walde parallel mit dem Rande desselben hin. Es war ihnen nicht eingefallen, ein Gewehr mitzunehmen. Anton hatte das Messer und den Revolver mit; der Inka trug auch ein Messer im Gürtel, und dazu hing ihm sein Streitkolben, von dem er sich nie zu trennen pflegte, an der linken Seite nieder. Der erstere erzählte wie gewöhnlich, der letztere hörte still zu und warf zuweilen eine wißbegierige Frage dazwischen. Da vernahmen sie von drüben herüber eine donnernde Stimme:
»Cuidado, Señores! Bringt die Gewehre; es ist ein Jaguar da!«
»Das war der Vater Jaguar,« sagte Anton, indem er stehen blieb und unwillkürlich seinen Revolver zog.
»Sollte eine Onze, ein Tiger, in das Dorf gedrungen sein?«
»Nein,« antwortete Haukaropora. »Die Stimme kam nicht aus dem Dorfe, sondern von der andern Seite der Weide her. Wir haben uns zu weit entfernt. Laß uns zurückkehren!«
Sie entfernten sich vom Walde, um sich dem Dorfe zu nähern, und kamen dabei an einer Rindergruppe vorüber. Als der Inka die Haltung dieser Tiere sah, sagte er:
»Wir müssen uns beeilen. Diese Ochsen stehen zur Verteidigung bereit, und da sie die Hörner tief senken, so ist der Jaguar nicht nur da, sondern er muß sich hier in der Nähe befinden.«
Sie eilten mit raschen Schritten vorwärts, dorthin, wo sechs oder sieben Pferde, die Kruppen nach auswärts gerichtet, mit zusammengesteckten Köpfen einen Verteidigungskreis bildeten. Die Tiere schnaubten und standen mit den Hinterhufen keinen Augenblick still. Haukaropora ging links, Anton aber rechts vorüber, weil er da glaubte, näher zu kommen. Eben war er um die Pferdegruppe gebogen, als er seitwärts von derselben und vor sich etwas Dunkles im Grase liegen sah. Was es war, konnte er nicht erkennen, da die Sichel des Mondes nicht hell genug schien. Er hielt den Gegenstand oder das Tier für ein junges, an der Erde liegendes Kalb oder Füllen und wollte an demselben vorüber. Da erhob es sich und nun sah er allerdings, wen er vor sich hatte: es war der Jaguar, welcher zwar aufgesprungen war, sich aber zum Sprunge sofort wieder niederduckte. Flucht wäre da das Schlimmste gewesen. Anton blieb also stehen, spannte den Revolver und zog mit der linken Hand sein Messer. Was er in diesem Augenblicke fühlte, das war eigentlich nicht Furcht, sondern eine Empfindung, für die es keine Bezeichnung gibt.
»Hauka,« rief Anton, »der Jaguar!«
Eben kam der Inka um die andre Seite der Pferdegruppe. In demselben Augenblicke that der Jaguar den Sprung auf Anton zu. Dieser jagte ihm eine Kugel entgegen, wurde aber von dem Tiere niedergerissen. Er fühlte die schwere Last der Bestie auf sich liegen und roch den stinkenden Hauch derselben. Er war sicher, nun von den Krallen zerfleischt, von den Zähnen zermalmt zu werden; da aber hörte er über sich einen Krach, wie wenn man mit einer Axt auf den Hackstock schlägt; der Jaguar richtete sich halb auf und rollte dann, ohne einen Laut auszustoßen oder nur zu röcheln, zur Seite. Anton fühlte sich von der Last frei; es war ihm aber, als ob er es noch gar nicht glauben dürfe; darum blieb er noch liegen. Da beugte sich der Inka über ihn und fragte in liebevollem Tone:
»Bist du verletzt, Antonio? Hat dich seine Kralle oder sein Rachen getroffen?«
»Ich glaube nicht,« antwortete der Gefragte. »Es thut mir nichts weh. Da liegt das Tier. Was ist mit ihm?«
»Es ist tot; ich habe es mit meinem Humantschuay erschlagen. Eben als du mich gerufen, sprang er auf dich ein. Du gabst ihm eine Kugel und ich sprang hinter ihm her, um ihm mit dem Kolben den Schädel einzuschlagen. Steh auf, daß wir sehen, ob du Schaden erlitten hast!«
Anton erhob sich. Es war ihm nichts geschehen. Selbst sein Anzug war vollständig unverletzt. Ob der Schuß das Tier so konsterniert hatte, daß es seine scharfen Waffen nicht sofort gebraucht hatte?
Der Gerettete drückte seinen Retter innig an sich und sagte:
»Ohne dich lebte ich jetzt nicht mehr; ich wäre zerfleischt. Wie kann ich dir danken?«
»Dadurch, daß du mich immer so liebst, wie du mir jetzt gewogen bist. Das ist mir lieber als alles. Doch laß uns nun zu den Unsrigen zurückkehren.«
»Und was geschieht mit dem Tiger?«
»Den lassen wir einstweilen liegen; die Cambas mögen ihn holen.«
Sie kamen aber noch nicht von der Stelle fort, eben jetzt kam der Vater Jaguar. Er hatte den Ruf Antons und den Revolverschuß gehört und war dem Bedrängten zugeeilt. Als er den Fall übersah, bückte er sich zu dem Raubtiere nieder, untersuchte dasselbe und sagte dann:
»Ein Weibchen, ein gewiß fünfjähriges Weibchen. So einen großen Jaguar habe ich noch selten gesehen.
Hauka, du bist wirklich ein junger Held, vor dem ich alle Achtung habe. Und welch ein gewaltiger Hieb! Du hast ihm den Schädel eingeschlagen. Hier nimm meine Hand! Ich muß dir die deinige drücken und schütteln, denn ich bin überzeugt, daß du einst ein tüchtiger Mann sein wirst.«
Dieser Händedruck war dem jungen Inka sehr viel wert. Eine Anerkennung von diesem Manne galt ihm höher, als das Lob vieler andrer.
Die drei kehrten nach dem Dorfe zurück. Als die in demselben Befindlichen das Abenteuer erfuhren, brachen sie alle, Männer, Weiber und Kinder, auf, um den Jaguar im Triumphzuge heimzuholen. Er wurde sofort aus der Haut geschält. Das Fell gehörte natürlich dem Inka, da dieser das Tier erlegt hatte; er nahm es aber nicht an, sondern schenkte es Anton als Andenken an die Gefahr, aus welcher er von dem Freunde gerettet worden war. Haukaropora hatte schon bisher die Teilnahme der ganzen Gesellschaft genossen; von heute an bemerkte man noch viel deutlicher, daß sie ihn wirklich achteten und einem erwachsenen Manne für gleichwert hielten.