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»Er kann nicht hierbleiben«, brummte der Direktor. »Die Schule wird auf den Kopf gestellt und von oben bis unten gereinigt.«

Mycroft wandte seinen gelassenen Blick von Sherlock ab und sah den Direktor an.

»Unsere Mutter ist … unpässlich«, erklärte er. »Selbst an guten Tagen ist ihre Verfassung labil, und die Sache mit unserem Vater hat sie zutiefst bekümmert. Sie braucht Ruhe und Frieden, und Sherlock braucht jemand älteren, der sich um ihn kümmert.«

»Aber ich habe dich!«, protestierte Sherlock.

Mycroft schüttelte traurig seinen großen Kopf. »Ich lebe jetzt in London, und mein Job bringt täglich viele Stunden Arbeit mit sich. Ich fürchte, ich wäre kein geeigneter Aufpasser für einen Jungen. Vor allem nicht für so einen neugierigen wie dich.« Er wandte sich zum Direktor um, was fast so wirkte, als wäre es einfacher, ihm die nächste Information mitzuteilen als Sherlock.

»Obwohl unser Familiensitz in Horsham liegt, haben wir Verwandte in Farnham, nicht allzu weit von hier. Einen Onkel und eine Tante. Sherlock wird während der Schulferien bei ihnen wohnen.«

»Nein!«, explodierte Sherlock.

»Doch«, erwiderte Mycroft sanft. »Es ist so abgemacht. Onkel Sherrinford und Tante Anna haben zugestimmt, dich den Sommer über aufzunehmen.«

»Aber ich kenne sie noch nicht einmal!«

»Nichtsdestotrotz gehören sie zur Familie.«

Mycroft verabschiedete sich vom Direktor, während Sherlock mit ausdrucksloser Miene dastand und die Ungeheuerlichkeit dessen zu erfassen versuchte, was eben geschehen war. Er würde nicht nach Hause kommen. Weder seinen Vater noch seine Mutter sehen. Keine Erkundungstouren in den umliegenden Feldern und Wäldern des Herrensitzes unternehmen, der seit vierzehn Jahren sein Zuhause war. Er würde nicht in seinem alten Bett im Zimmer unter dem Dach schlafen, in dem er all seine Bücher aufbewahrte.

Nicht in die Küche schleichen, wo die Köchin ihm ein Stück Brot mit Marmelade geben würde, wenn er sie anlächelte. Stattdessen würde er Wochen mit Menschen verbringen, die er nicht kannte. Sich so ordentlich benehmen wie möglich. In einer Stadt, in einer Gegend, über die er nichts wusste. Allein. Die ganze Zeit, bis er wieder in die Schule ging.

Wie sollte er das nur aushalten?

Sherlock folgte Mycroft aus dem Studierzimmer des Direktors über den Korridor zur Eingangshalle. Eine geschlossene zweispännige Kutsche wartete vor der Tür. Von der Reise, die Mycroft zur Schule unternommen hatte, waren die Räder noch mit Schlamm überzogen und die Seiten der Kabine mit Staub bedeckt. Das Wappen der Holmes-Familie prangte auf der Tür. Sherlocks Koffer war schon auf der Rückseite verstaut. Vorn auf dem Kutschbock saß ein hagerer Mann, den Sherlock nicht kannte. Schlaff hielt er die Zügel in den Händen, während die beiden Pferde geduldig warteten.

»Woher wusste er, dass das mein Koffer ist?«

Mycroft machte eine Handbewegung, die besagen sollte, dass das keine große Sache war. »Ich habe den Koffer vorhin vom Fenster des Direktorenzimmers aus gesehen. Er war als einziger unbeaufsichtigt. Und außerdem ist es der, den Vater immer benutzt hat. Der Direktor war so freundlich, einen Jungen loszuschicken, der dem Kutscher auftrug, den Koffer aufzuladen.« Er öffnete die Tür der Kutsche und forderte Sherlock mit einer Geste auf einzusteigen. Doch stattdessen blickte sich Sherlock noch einmal zu seiner Schule und seinen Mitschülern um.

»Du siehst aus, als würdest du denken, dass du sie nie wiedersiehst«, sagte Mycroft.

»Das ist es nicht«, erwiderte Sherlock. »Es ist nur, ich dachte, ich würde wegen etwas Schönerem von hier fortgehen. Aber jetzt weiß ich, dass mir etwas Schlechteres bevorsteht. So schlimm es hier auch ist, etwas Besseres ist jetzt jedenfalls nicht mehr zu erwarten.«

»So schlimm wird es nicht sein. Onkel Sherrinford und Tante Anna sind gute Menschen. Sherrinford ist Vaters Bruder.«

»Wieso habe ich dann noch nie was von ihnen gehört?«, fragte Sherlock. »Warum hat Vater nie erwähnt, dass er einen Bruder hat?«

Mycroft zuckte fast unmerklich zusammen. »Ich fürchte, es gab ein Zerwürfnis in der Familie. Das Verhältnis war eine Weile ziemlich gespannt. Mutter hat vor ein paar Monaten wieder Kontakt aufgenommen. Ich bin nicht mal sicher, ob Vater das weiß.«

»Und da schickst du mich hin?«

Mycroft tätschelte Sherlocks Schulter. »Wenn es eine Alternative gäbe, würde ich mich dafür entscheiden, glaube mir. Nun denn, musst du dich von irgendwelchen Freunden verabschieden?«

Sherlock sah sich um und sein Blick fiel auf etliche Jungen, die er kannte. Aber war auch nur einer von ihnen ein wirklicher Freund?

»Nein«, sagte er. »Lass uns gehen.«

Die Reise nach Farnham dauerte mehrere Stunden. Nachdem sie durch das Städtchen Dorking gefahren waren, der Deepdene am nächsten gelegenen Ortschaft, rumpelte die Kutsche auf Feldwegen weiter. Unter ausladenden Baumkronen entlang und vorbei an einzeln stehenden strohgedeckten Cottages, größeren Häusern und Feldern voller reifer Gerste.

Die vom wolkenlosen Himmel brennende Sonne verwandelte die Kutsche trotz des Fahrtwindes schon bald in einen Backofen. Insekten schwirrten träge immer wieder gegen das Fenster, und Sherlock beobachtete eine Weile, wie die Welt an ihnen vorbeizog. Zum Mittagessen hielten sie an einem Gasthaus, in dem Mycroft etwas Schinken, Käse und einen halben Laib Brot kaufte. Irgendwann schlief Sherlock ein. Als er nach ein paar Minuten oder auch Stunden wieder aufwachte, fuhr die Kutsche immer noch durch die gleiche Landschaft. Eine Weile lang unterhielt er sich mit Mycroft darüber, wie es gerade bei ihnen zu Hause aussah. Sie sprachen über ihre Schwester und die schwache Gesundheit ihrer Mutter. Mycroft erkundigte sich nach Sherlocks Studien, und Sherlock erzählte ihm ein bisschen über die verschiedenen Lektionen, die er über sich hatte ergehen lassen müssen, um sich dann ein wenig ausführlicher über die unterrichtenden Lehrer auszulassen. Er imitierte ihre Stimmen und Schrullen so witzig und gehässig, dass Mycroft sich vor Lachen nicht mehr zu helfen wusste.

Nach einer Weile säumten immer mehr Häuser die Straße, und schon bald fuhren sie durch eine große Stadt. Die Pferdehufe klapperten auf den Pflastersteinen, und als Sherlock sich aus der Kutsche lehnte, fiel sein Blick auf ein Gebäude, das wie ein Rathaus aussah. Das Auffälligste an dem weiß verputzten und mit schwarzen Holzschnitzereien verzierten zweistöckigen Bau war eine riesige Uhr, die an einem horizontalen Träger befestigt war und weit auf die Hauptstraße hinausragte.

»Farnham?«, riet Sherlock.

»Guildford«, antwortete Mycroft. »Aber Farnham ist jetzt nicht mehr weit.«

Als sie Guildford hinter sich gelassen hatten, führte die Straße auf einer Anhöhe entlang, von der das Land zu beiden Seiten abfiel. Von hier oben sahen die Felder und Wälder wie eine Spielzeuglandschaft aus, auf der sich vereinzelte Tupfer gelber Phantasieblumen verteilten.

»Diese Anhöhe heißt Hog’s Back«, erklärte Mycroft. »Hier in der Nähe auf dem Pewley-Hügel gibt es eine Semaphor-Station. Sie ist Teil einer Signalkette, die sich den ganzen Weg von der Admiralität in London bis zum Hafen von Portsmouth erstreckt. Haben sie euch in der Schule etwas über Semaphor-Stationen beigebracht?«

Sherlock schüttelte den Kopf.

»Typisch«, murmelte Mycroft. »Den Jungens Latein eintrichtern, bis ihnen der Schädel platzt, aber keinen Sinn für praktische Dinge.«

Er seufzte tief. »Mit einem Semaphor können Nachrichten, für deren Übermittlung man mit Pferden Tage brauchen würde, rasch und über weite Entfernungen übermittelt werden. Semaphor-Stationen haben Signaltafeln oben auf dem Dach, die von Weitem sichtbar sind und sechs große Löcher aufweisen. Die Löcher können durch Verschlussklappen geöffnet oder geschlossen werden. Je nachdem, welches Loch geöffnet oder geschlossen ist, werden auf der Tafel verschiedene Buchstaben dargestellt. In jeder Semaphor-Stelle gibt es einen Mann, der die vorherige und die folgende Station der Kette mit einem Teleskop beobachtet. Wenn er eine Nachricht buchstabiert sieht, schreibt er sie auf und wiederholt sie dann auf seiner eigenen Semaphor-Tafel. Auf diese Weise wird die Nachricht weitergeleitet. Diese Semaphor-Kette beginnt beim Marineamt, verläuft über Chelsea und Kingston upon Thames bis hierher und setzt sich dann den ganzen Weg bis nach Portsmouth Dockyard fort. Eine andere Kette führt runter nach Chatham Dockyards und weitere nach Deal, Sheerness, Great Yarmouth und Plymouth. Sie wurden errichtet, damit die Admiralität im Falle einer französischen Invasion rasch Nachrichten zur Navy schicken konnte.