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Die Kisten waren mit denen identisch, die Sherlock auf dem Anwesen des Barons gesehen hatte. Dort, wo er gefangengehalten worden war. Aus Holzlatten konstruierte kistenförmige Behältnisse für Bienen. Und in der Nähe standen stapelweise jene Holztabletts herum, die – wie er vor Ort gesehen hatte – unter die Kisten geschoben werden konnten. Zwar hatte man sie nun in Wachspapier eingeschlagen, aber ihre Umrisse waren unverkennbar.

Er war versehentlich mitten in die Geheimoperation des Barons hineingestolpert. Deswegen also waren Denny und seine Bande hergekommen!

Ohne die Szene aus den Augen zu lassen, rückte Sherlock noch näher heran und duckte sich hinter einen Kistenstapel. Einige der Bienenstöcke wurden gerade auf eine Palette geladen, die daraufhin von schwitzenden Hafenarbeitern an Seilen in die Höhe gezogen wurde, um dann in den Schiffsladeraum herabgelassen zu werden. Der Himmel allein mochte wissen, wie sie die Bienen davon abhielten, in Massen über sie herzufallen. So, wie sie es bei den beiden Unglücklichen in Farnham gemacht hatten. Vielleicht hatte der Baron ein Mittel, sie zu beruhigen.

Als Sherlock beobachtete, wie eine weitere Palette mit Kisten auf das Schiff zuschwang, riss an einer Ecke plötzlich eines der Halteseile. Die Palette kippte zur Seite und vier Bienenstöcke rutschten herunter. Sich träge drehend, fielen sie herab und zersplitterten auf der steinernen Kaimauer in etliche Teile.

Von der Seite kamen augenblicklich Männer mit Zinkeimern angerannt, an die ein rüsselförmiger Ausgießer angebracht war. Irgendetwas in den Eimern erzeugte Rauch und dieser Rauch schien die Bienen in einen schlafartigen Zustand zu versetzen.

Ein paar Tiere entkamen, aber die meisten blieben bei den zerstörten Bienenstöcken zurück und vollführten torkelnde Bewegungen, als wären sie betrunken. Geteerte Leinwandplanen wurden über die Trümmer geworfen. Dann schleifte man das Ganze über das Pflaster, um den Inhalt schließlich in den schaumigen Fluten der Themse verschwinden zu lassen. Sherlocks Vermutung nach war es anscheinend so gut wie unmöglich, einen zerstörten Bienenstock wieder instand zu setzen.

»Sherlock?«

Eine sanfte Stimme rief seinen Namen. Er blickte sich von seinem Versteck aus um. Die Stimme hatte nicht wie die von Amyus Crowe geklungen. Und auch nicht wie Mattys.

»SHERLOCK?« Die Stimme klang nun eindringlicher. Erneut taxierte er die Umgebung. Plötzlich wurde er auf eine Gestalt aufmerksam, die sich wie er hinter einem Stapel Kisten versteckt hatte. Eine weibliche Gestalt.

»Virginia?«

Sie hatte ihre Reithosen an und trug eine kurze Jacke über einer schneeweißen Leinenbluse. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie zu ihm herüber. »Was machst du denn hier?«, zischte sie.

Sherlock schlüpfte rasch zu ihr hinüber. »Es würde zu lange dauern, das zu erklären«, erwiderte er.

Sie musterte ihn von oben bis unten. »Was ist denn mit dir passiert?«

Er dachte einen Augenblick nach. »Bin in einem Haufen Ratten herumgeschwommen. Unter anderem jedenfalls. Und was hast du mir zu erzählen?«

Überraschend verlegen, wandte sie den Blick ab. »Ich hatte keine Lust, einfach zurückgelassen zu werden, während ihr Kerle den ganzen Spaß habt«, flüsterte sie. »Also, bin ich in meine Reitkleidung geschlüpft und euch gefolgt.«

»Aber wir sind flussabwärts gefahren. In einem Boot. Wie bist du uns gefolgt?«

Sie starrte ihn verwundert an. »In einem anderen Boot natürlich. Ich hab dem Bootsführer einfach gesagt, dass er euch folgen soll. Er ist mir zuerst etwas dumm gekommen, aber ich hatte Geld dabei, das Vater mir gegeben hat, und da hat er sich wieder eingekriegt. Während du das Lagerhaus beobachtet hast, habe ich dich beobachtet. Dann hab ich mitbekommen, wie einige Männer aus einer kleinen Seitentür im Lagerhaus geschlichen sind, während ihr alle anscheinend nichts mitbekommen und euch nicht vom Fleck gerührt habt. Also bin ich ihnen dann bis hierher gefolgt. Hätte sie übrigens fast noch verloren, als sie in eine Droschke gestiegen sind, aber zum Glück hab ich auch gleich eine erwischt.«

»Ich habe nichts von dir gesehen«, wandte Sherlock lahm ein.

»Dad hat mir all seine Fährtensuchertricks beigebracht«, erwiderte sie stolz. »Wenn ich dich verfolge, ist ›nichts‹ genau das, was du sehen sollst.« Sie schwieg. Dann beugte sie sich vor und berührte kurz seinen Arm.

»Was du getan hast, war unglaublich gefährlich«, meinte Sherlock. »Aber ich bin froh, dich zu sehen.«

Sie zuckte die Achseln. »Es war jedenfalls besser, als im Hotel auf eure Rückkehr zu warten.«

»Aber warum bist du ausgerechnet denen gefolgt? Und nicht zu deinem Vater gegangen, um ihm zu erzählen, was passiert ist?«

»Einfach darum eben«, sagte sie nur und fügte dann kleinlaut hinzu: »Na ja, eigentlich weil ich seine Spur verloren hatte.«

»Aber ein Mädchen … allein … im Londoner East End …« Er brach ab, unsicher, wie er den Satz zu Ende bringen sollte. »Hier laufen ein paar ziemlich üble Kerle rum …«, fing er schließlich wieder an. Und dann erzählte er, was ihm an diesem Nachmittag alles passiert war, und berichtete auch von dem erstochenen Mann und dem Brand in den Tunneln.

Es war eine große Erleichterung, darüber zu sprechen. Aber gleichzeitig war sich Sherlock darüber im Klaren, dass er in tödlicher Gefahr geschwebt hatte und er immer noch nicht wusste warum.

»Wir können nicht zulassen, dass sie damit durchkommen«, sagte Virginia, als er zu Ende erzählt hatte. »Du bist nur ein Kind. Die hätten dich umbringen können.«

»Du bist auch nur ein Kind«, protestierte Sherlock lahm.

Virginia lächelte. »So hab ich’s nicht gemeint«, erwiderte sie. »Was ich sagen wollte, ist, dass wir eigentlich nicht in so etwas hineingezogen werden sollten.«

»Aber das sind wir nun mal«, unterstrich Sherlock. »Und was immer da auch vor sich geht: Wir müssen es verhindern.«

»Okay, ich bin bereit. Ich hab was gefunden, um mich perfekt als Junge zu verkleiden«, sagte Virginia stolz und zog eine Kopfbedeckung unter der Stelle hervor, wo sie gerade hockte. Es handelte sich um eine Schirmmütze aus Stoff. Sie hielt mit einer Hand die Haare hinter dem Kopf zusammen und ließ mit der anderen die Mütze darübergleiten. Mit den verborgenen Haaren und der zugeknöpften Jacke könnte sie tatsächlich gut als Junge durchgehen, fand Sherlock. Und natürlich hatte sie ja außerdem noch ihre Reithosen an. Mädchen hingegen trugen Kleider, keine Reithosen. Niemand, der sie nicht kannte, würde den geringsten Anlass haben, misstrauisch zu werden.

»Da wir nun schon mal zusammen hier sind«, sagte Sherlock, »sollten wir die Gelegenheit nutzen und rausfinden, wohin dieses Schiff fährt.« Er hielt nach dem Mann Ausschau, den er zuvor gesehen hatte. Dem Mann mit den Papierblättern auf dem Klemmbrett. »Ich glaube, der Mann da drüben ist der Lade- oder Kaimeister oder so was. Den können wir fragen.«

»Einfach so?«

»Dein Vater hat mir ein paar gute Tipps beigebracht, wie man Fragen stellt.«

Sherlock blickte sich um und wartete, bis niemand in ihre Richtung sah. Dann führte er Virginia aus ihrem Versteck und schlenderte mit ihr zusammen auf dem Kai entlang, bis sie zu einer Stelle kamen, wo sie sich auf die Steinmauer setzten, die das Themseufer säumte. Er verspürte ein Prickeln im Nacken, normalerweise ein untrügliches Zeichen dafür, dass er beobachtet wurde. Aber er zwang sich dazu, das Gefühl zu ignorieren. Denny war mittlerweile vermutlich bei einem Doktor oder Wundarzt, vorausgesetzt, dass sein Kiefer wirklich gebrochen war. Und was die anderen Männer anbelangte, so standen die Chancen ziemlich gut, dass sie gar nicht einen so genauen Blick auf ihn hatten werfen können. Jedenfalls nicht so genau, dass sie in der Lage gewesen wären, ihn von anderen Kindern zu unterscheiden. Vor allem jetzt, da er über und über mit Dreck, Ruß, Rattenhaaren und allen möglichen anderen Dingen bedeckt war, die er sich lieber nicht genauer ausmalen wollte. Sie saßen eine gute halbe Stunde lang auf der Mauer, plauderten zwanglos über dieses und jenes und wurden allmählich zu einem Teil der Umgebung. Schließlich hatte der Lade- oder Kaimeister, oder was auch immer er war, seine Arbeit am Schiff erledigt und schickte sich an, in ihre Richtung zurückzugehen. Als er an ihnen vorbeikam, blickte Sherlock auf und sagte: »Hey, Boss. Gibt’s hier im Hafen Chance auf Arbeit?«