Und da es in der Nähe von Farnham keinen Ozean gab, lag die logische Schlussfolgerung nahe, dass er sich nicht mehr in der Nähe von Farnham befand. Und vermutlich noch nicht einmal mehr in England. Der Kaimeister hatte erzählt, dass das Schiff Frankreich ansteuern würde. Das würde auch die merkwürdige Felsküste erklären.
Aber was war mit dem Raum? Das war vermutlich ganz simpel durch die Tatsache zu erklären, dass Baron Maupertuis ein Gewohnheitstier war und, wo immer er sich auch aufhielt, es zu schätzen wusste, wenn seine Umgebung stets so vertraut wie möglich war. Gesetzt den Fall, dass es sich bei dem Anwesen außerhalb von Farnham nicht um seinen Familiensitz handelte, so hatte er es vermutlich so umgebaut und umgestaltet, dass es dem glich, was er als sein Zuhause bezeichnete – wo immer es auch sein mochte. Wobei es sich dabei durchaus um dieses französische – wie sagte man hier doch gleich … Château? – handeln konnte, in dem er sich gerade aufhielt.
Ein seltsames Gefühl der Selbstzufriedenheit erfüllte ihn. Er war einer Sache auf die Spur gekommen, die von seinen Widersachern seiner Vermutung nach eigentlich dafür vorgesehen war, ihn zu verwirren und aus dem Gleichgewicht zu bringen. Als dann das Türschloss hinter ihm klickte und die Tür nach innen aufschwang, drehte er sich nicht einmal um. Er wusste bereits, was er dort zu sehen bekäme: zwei Diener in schwarzen Kniebundhosen, schwarzen Beinlingen, schwarzen Westen und kurzen schwarzen Jacken. Mit schwarzen Samtmasken im Gesicht. Genau wie beim letzten Mal. Er zählte im Kopf bis zehn und drehte sich um. Er hatte recht. Jedenfalls zum Teil. Die beiden Diener, die links und rechts in der Tür standen, waren genauso angezogen, wie er sich erinnerte. Allerdings stand noch ein dritter Mann in der Mitte des Türrahmens. Genauer gesagt, war er so riesig, dass er diesen fast vollständig ausfüllte. Seine Arme waren so dick wie die Beine eines normalen Mannes, während seine eigenen Beine den Umfang von Baumstämmen aufwiesen. Seine Hände glichen in Größe und Gestalt großen Schaufelblättern. Aber das, womit er in erster Linie die Aufmerksamkeit auf sich lenkte, war sein Kopf. Er war kahlgeschoren, doch seine Kopfhaut war so dicht von gewundenen braunen Narben überzogen, dass es auf den ersten Blick aussah, als hätte er einen üppigen Haarschopf auf dem Kopf. Über einem schlabberig sitzenden grauen Anzug trug er einen langen braunen Ledermantel, dessen weiter Schnitt und schiere Masse ihn sogar noch größer wirken ließen.
»Der Baron will dich sehen«, sagte er mit einer Stimme, die sich anhörte, als würden zwei Millionen Mahlsteine aufeinanderreiben.
»Und was ist, wenn ich den Baron nicht sehen will?«, erwiderte Sherlock ruhig. Die beiden Diener tauschten Blicke aus, aber der Narbenmann schüttelte nur leicht den Kopf. »Was der Baron will, kriegt er auch. Etwas anderes gibt es nicht.«
»Was ist, wenn ich mich weigere, mit euch zu gehen?«
»Dann packen wir dich am Kragen und tragen dich.«
Sherlock wusste, dass er sich kindisch benahm. Aber seine Widersacher sollten begreifen, dass er nicht einfach nur ein willenloses und passives Opfer war.
»Was, wenn ich mich am Türrahmen festkralle und mich weigere loszulassen?«
»Dann brechen wir dir die Finger und nehmen dich trotzdem mit.«
Der Mann lächelte, aber in seinem Ausdruck lag keine Spur von Heiterkeit. Es war lediglich ein bloßes Zurschaustellen seiner Zähne. Wie ein Tiger, der sich bereit zum Sprung auf sein Opfer machte. »Der Baron braucht von dir nur das, was übrig bleiben muss, um Fragen zu beantworten. Mehr nicht. Das bedeutet also deinen Kopf, damit dein Hirn denken und dein Mund sich bewegen kann, und deinen Brustkorb, damit deine Lungen atmen und dich am Leben halten können. Alles andere ist optional. Deine Wahl.«
Sherlock wartete noch einen Augenblick, nur um zu demonstrieren, dass er sich darüber bewusst war, eine Wahlmöglichkeit zu haben und diese auch in Anspruch nahm. Dann bewegte er sich auf die Tür zu. Der Narbenmann rührte sich nicht von der Stelle, bis Sherlock kurz davor war, in ihn hineinzulaufen. Erst dann drehte er sich etwas zur Seite. Doch gerade nur so viel, dass Sherlock durch die Tür kam.
»Mein Name ist MrSurd«, sagte er, als die beiden Diener und er Sherlock auf dem Korridor folgten. »Ich bin persönlicher Diener und Faktotum des Barons. Was immer er auch verlangt, ich erledige es. Will er ein Glas Madeira, gehört es zu meinen Aufgaben, ihm eines einzuschenken. Will er deinen Kopf auf einem Tablett, ist es meine Pflicht, ihn abzuschneiden und zu servieren. Kein Vergnügen, keine ehrenvolle Aufgabe. Einfach nur ein Job. Verstehst du mich?«
»Ich verstehe«, sagte Sherlock. »Sie waren das mit der Peitsche, als ich das letzte Mal beim Baron war, oder? Sie haben da im Dunkeln gestanden.«
»Nur ein Job«, wiederholte der Narbenmann. »Aber ein gut gemachter Job erfüllt mich mit großer Befriedigung.«
Der obere Korridor und die Treppe, die hinunter in die Haupthalle führte, sahen genauso aus, wie er sie von dem Anwesen in Farnham her noch in Erinnerung hatte. Unversehens ertappte Sherlock sich dabei, wie er nach den Hufspuren suchte, die Matty und er bei ihrer Flucht hinterlassen haben mussten. Doch halt, nein. Dies war nicht dasselbe Haus, sondern ein anderes. Eines, das einfach nur so aussah wie das in Farnham.
Virginia stand neben einem großen Teakschrank in der Halle. Direkt vor dem Raum, in dem, wie Sherlock sich erinnerte, Baron Maupertuis auf sie warten würde. Bewacht wurde sie von zwei maskierten Dienern, die sich neben ihr postiert hatten.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Nur ein paar seltsame Träume«, erwiderte sie. »Ich bin auf Sandia geritten, aber er war so wild, dass ich ihn beim besten Willen nicht kontrollieren konnte. Wir sind einfach weiter und weiter durch eine komische Landschaft geritten, die immer in dem Augenblick zerflossen ist, in dem ich einen Blick darauf geworfen habe.« Sie schüttelte sich, um die unangenehme Erinnerung loszuwerden. »Und was ist mit dir?«
»Schlangen«, sagte er nur.
»Was war das für ein Zeugs, mit dem sie uns betäubt haben? Mein Kopf fühlt sich immer noch ganz benebelt an.«
»Ich glaube, es war Laudanum, in Alkohol gelöstes Opium. Meine Mutter und mein Vater haben es auf Anordnung des Arztes immer meiner kranken Schwester verabreicht. Ich erkenne den Geruch wieder. Es wird aus Mohn gemacht.«
»Mohn?« Sie lachte. »Den hab ich noch nie gemocht. Das sind ganz gruselige Blumen.«
MrSurd schob sich an ihnen vorbei und öffnete die Tür zu dem Raum, in dem der Baron auf sie wartete. Mit einer Geste forderte er sie auf einzutreten.
Wie bei ihrer letzten Begegnung lag der Raum im Dunkeln. Am Kopfende eines riesigen Tisches waren zwei Stühle platziert worden. Das andere Ende des Tisches lag im Schatten verborgen. Schwere schwarze Vorhänge verhüllten die Fenster und verhinderten, dass Sonnenlicht ins Zimmer drang. Die wenigen Wandbereiche, die Sherlock erkennen konnte, waren mit Schwertern und Schildern bedeckt. Und an einer Stelle war sogar eine vollständige Ritterrüstung aufgestellt worden, die so arrangiert war, dass der in der Rüstung steckende imaginäre Ritter ein Schwert in der Hand hielt.
MrSurd bedeutete ihnen, sich zu setzen. Sherlock spielte mit dem Gedanken, sich zu weigern. Aber dann nahm er etwas in MrSurds Blick wahr. Etwas, das ihn zu dem Schluss kommen ließ, dass der Diener genau dies nicht nur von ihm erwartete, sondern sich sogar regelrecht wünschte, um Sherlock eine schmerzhafte Lektion erteilen und ein für alle Mal sicherstellen zu können, dass er gehorchte.
Also setzte sich Sherlock lieber, während Virginia neben ihm Platz nahm.
MrSurd und die vier Diener gingen zum anderen Ende des Raumes und verschwanden in der Dunkelheit.
Eine Weile war es still im Zimmer. Abgesehen von einem feinen Knarren und Knarzen, Geräuschen, wie sie unter Spannung stehende Taue und Holz von sich geben und die Sherlock schon beim letzten Mal aufgefallen waren.