»Somit planen Sie also, die britische Armee durch einen einzigen Schlag zu vernichten.«
»Nicht so sehr durch einen einzigen Schlag als vielmehr durch eine immer weiter um sich greifende Krankheit, die nur Soldaten befällt und niemand sonst. Die Bienen sind, wie du ja bereits weißt, ungewöhnlich aggressiv und territorial orientiert. Wir haben sie auf Aggressivität hin gezüchtet – und sie vermehren sich ausgesprochen schnell. Die Substanz, mit der wir die Uniformen getränkt haben, wird von den Körpern der Soldaten absorbiert und dann über die Haut wieder ausgeschwitzt. Riechen die Bienen das, gehen sie augenblicklich zum Angriff über. Sobald die Bienen aus ihren neuen Heimen freigelassen worden sind, werden sie sich im Laufe einiger Monate über ganz England ausbreiten und auf ihrem Weg alle Soldaten zu Tode stechen, denen sie begegnen. Für die nächste Angriffsphase werden wir an geheimen Orten in Europa weitere Völker züchten. Entsetzen, Angst und nackte Panik werden unsere effektivsten Verbündeten sein. Eine mysteriöse Seuche, die nur Soldaten befällt. Und England wird auf die Position verwiesen, die es verdient: die einer drittrangigen Nation.«
»Aber was ist mit den beiden Männern, die gestorben sind? Ihr Komplize und der Gärtner meines Onkels. Die waren nicht Teil der Verschwörung, oder?«
Ein Rascheln und Knarzen ertönte aus der Dunkelheit, als würde Baron Maupertuis die Achseln zucken. Oder als würde jemand bewirken, dass er es tat. »Ich wusste, dass einige Arbeiter Uniformteile gestohlen hatten, aber ich habe das durchgehen lassen. Das war ein Fehler. Einer der Bienenstöcke wurde von einem Pferd umgeworfen und die Bienen entkamen. Sie wurden wild, und als sie die Substanz auf den gestohlenen Uniformen witterten, griffen sie an. MrSurd musste die Königin retten und die überlebenden Bienen zurücklocken. Eine sehr mutige Aktion.«
»Nur ein Job, Sir«, ließ sich MrSurd von der anderen Seite des Raumes aus vernehmen.
Obwohl Sherlock bereits das meiste herausgefunden hatte, verschlug es ihm angesichts der blanken Unverfrorenheit der Verschwörung dennoch den Atem. Und so schrecklich der Plan einerseits auch war, so konnte Sherlock zunächst auch keine offensichtlichen Denkfehler darin entdecken. Wenn die Bienen so aggressiv waren, wie Maupertuis gesagt hatte, und die Uniformen so effektiv verteilt werden würden, wie der Baron es vorhatte, könnte es funktionieren. Nein, es würde funktionieren.
»Mein Bruder wird Sie aufhalten«, sagte Sherlock ruhig. Das war seine letzte Hoffnung.
»Dein Bruder?«
»Mein Bruder.«
Sherlock hörte ein Wispern im Dunkeln. Dem rauen, an aneinanderreibende Steine erinnernden Ton nach zu schließen, kam es von MrSurd.
»Ah«, sagte Maupertuis mit seiner dünn-trockenen Stimme. »Dein Name ist Sherlock Holmes. Dein Bruder muss Mycroft Holmes sein. Ein cleverer Mann. Wir hatten ihn schon mal als jemanden ins Auge gefasst, der für unsere Gruppe interessant sein könnte. Wie es aussieht, gerätst du nach ihm.«
»Ich habe ihm bereits ein Telegramm geschickt und berichtet, was hier vor sich geht«, sagte Sherlock so ruhig, wie er es eben fertigbrachte.
»Nein«, korrigierte ihn der Baron. »Das hast du nicht. Wenn dem so wäre, hättest du keine Veranlassung mehr gehabt, mein Schiff unter die Lupe zu nehmen. Mycroft Holmes hätte seine Agenten eingesetzt, um das zu erledigen.«
Seine Agenten? Auf einmal wurde sich Sherlock so richtig über das Ausmaß der Macht klar, über die sein Bruder verfügen musste.
Wieder war Gewisper vom anderen Ende des Raumes zu hören.
»Trotzdem werden wir uns wohl um deinen Bruder kümmern müssen«, flüsterte Maupertuis. »Wenn sich von deiner Intelligenz auf die seine schließen lässt, könnte er durchaus imstande sein, hinter unsere Pläne zu kommen, und versuchen sie zu vereiteln. Du und er werdet in derselben Woche sterben, vermutlich sogar am selben Tag. In derselben Stunde, wenn ich es arrangieren kann, denn ich bin ein Mann, der die Ordnung schätzt. Und außerdem bleiben so deinen Eltern die Ausgaben für zwei einzelne Begräbnisse erspart.«
Mit einem Mal wurde Sherlock in vollem Ausmaß der schreckliche Preis bewusst, den er für seine Arroganz zu zahlen haben würde. Indem er voller Stolz die ganze schreckliche Verschwörung aufgedeckt, Baron Maupertuis seine Cleverness demonstriert und – schlimmer noch – sich dann mit seinem einflussreichen Bruder gebrüstet hatte, hatte er sie beide zum Tode verurteilt.
»Ich glaube, du hast mir jetzt alles gesagt, was du weißt«, fuhr Maupertuis fort, »und ich bin überrascht, wie viel du herausgefunden hast. Offensichtlich müssen wir in Zukunft noch diskreter vorgehen. Danke, zumindest dafür.«
»Aber warum London?«, fragte Sherlock rasch. Er spürte, dass die Dinge dem Ende zustrebten und man ihnen in Kürze das Leben nehmen würde. »Warum haben Sie die Bienenstöcke nicht gleich nach Portsmouth oder Southampton, sondern erst nach London transportieren lassen, bevor man sie hierher verfrachtete?«
»Deine Flucht hat uns früher zum Handeln gezwungen als geplant«, flüsterte der Baron. »In Portsmouth und Southampton waren keine Liegeplätze frei, und unser Schiff hat in London auf den Befehl zum Auslaufen gewartet. Es war im Grunde ineffizient, die Bienenstöcke nach London zu bringen, aber leider unvermeidlich. Und damit hat sich nun deine Nützlichkeit für mich erschöpft … deine und die des Mädchens, das neben dir sitzt. Ich wollte eigentlich drohen, sie umzubringen, um dich zum Reden zu zwingen. Aber Zwang war gar nicht erforderlich. Wenn es überhaupt ein Problem gab, dann bestand es darin, dich dazu zu bewegen, die Klappe zu halten.«
Gedemütigt blickte Sherlock Virginia an und spürte, wie er rot wurde. Aber Virginia lächelte ihn nur an. »Du hast verhindert, dass sie mir wehtun«, flüsterte sie. »Danke.«
»Keine Ursache«, antwortete Sherlock automatisch, ohne sich wirklich sicher zu sein, ob er sich das nun wirklich als Verdienst anrechnen sollte.
»MrSurd«, hörten sie Baron Maupertuis’ Stimme aus der Dunkelheit, und obwohl er flüsterte, drang seine befehlsgewohnte Stimme in jeden Winkel des Raumes.
»Wir müssen unsere Pläne beschleunigen. Erteilen Sie die Befehle. Begeben Sie sich zum Fort und lassen Sie die Bienen frei. Wenn sie die britische Hauptinsel erreicht und sich über das Land verteilt haben, werden die Uniformen schon ausgeteilt sein. Und dann werden Chaos und Verwirrung herrschen!«
15
Die Worte des Barons hallten kalt von den Wänden wider. Vor ihnen im Dunkeln war geschäftiges Geraschel zu hören, während ein Diener mit den Befehlen den Raum verließ. Sherlock warf einen Blick auf Virginia. Ihr Gesicht war kreidebleich, aber ihr Mund hatte sich zu einer entschlossenen Linie verhärtet. Er drückte ihre Hand, woraufhin Virginia ihm ein mattes Lächeln schenkte.
Ihr unbeugsamer Geist machte Sherlock Mut weiterzumachen.
»Ein grandioser Plan«, sagte er in die Dunkelheit gewandt. »Nur wird er nicht funktionieren.«
Einen Moment lang herrschte Stille. Lediglich unterbrochen von den merkwürdigen knarzenden und knarrenden Geräuschen, die er bereits im Haus des Barons in Farnham gehört hatte. Etwas, das klang wie eine vom Meerwasser benetzte Schiffstakelage, an der der Wind und die ruckartigen Bewegungen eines Schiffsrumpfes zerrten, der in den Wellen hin- und hergeschleudert wurde.
»Du scheinst ziemlich selbstsicher zu sein«, meldete sich die Stimme des Barons wieder. »Für ein Kind.«
»Denken Sie doch mal drüber nach. Ihr Plan ist nicht unbedingt wasserdicht, nur weil ihm zufällig zwei Männer zum Opfer gefallen sind. Durch alle möglichen Umstände könnte die Chemikalie zum Beispiel aus dem Uniformstoff herausgewaschen werden. Denken Sie daran, in England regnet es. Es regnet eine Menge. Und einige Soldaten werden ihre Uniformen schon einmal zum Waschen gebracht haben, bevor die Bienen sie erreichen. Vor allem die Offiziere.« Sherlock kam nun richtig in Fahrt, und sein Kopf sprudelte plötzlich nur so von Ideen, warum Maupertuis’ grandiose Verschwörung zum Scheitern verurteilt war.